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FÜNF  MINUTEN  STADT: Szene zweier Ehen

Erst sehen wir nur sie, eine zierliche Rotgefärbte, die Züge zornverzerrt. „Komm jetzt endlich“, ruft sie, während sie sich im Gehen halb umdreht, und: „Faules Stück!

Erst sehen wir nur sie, eine zierliche Rotgefärbte, die Züge zornverzerrt. „Komm jetzt endlich“, ruft sie, während sie sich im Gehen halb umdreht, und: „Faules Stück!“ Dann erst bemerken wir ihn, Leidensfigur der großen Stadt, etwa fünf Meter hinter ihr. Ein großer, greiser Mann, der sich unendlich langsam an zwei Krücken durch unser Blickfeld vor einer Außengastronomie am Nollendorfplatz schleppt. Die Augen aufgerissen, Schweiß auf der Stirn, die Haut gespannt um den zahnlosen Mund. Wir wollen, dass er vorbeigeht, dass sie vorbeigeht, dass es vorbeigeht, aber da ist sie schon ins Innere der Bar abgebogen: „Setz dich, wohin du willst, ich geh derweil aufs Klo, vielleicht hast du’s dann ja hingekriegt!“ schreit sie über unsere Köpfe hinweg. Wir blicken auf ihn, sehen, wie er sich fallen lässt auf den nächstbesten Stuhl direkt am Trottoir, ein Moment des Friedens, ehe sie zurückkehrt: „Grandios. Die besten Plätze. Mitten im Gang. Nichtsnutz!“ Wären das hier Mutter und Kind, es wäre Zeit, das Jugendamt einzuschalten. Aber was macht man mit zwei Alten, über die man nichts weiß, außer, dass sie die gleichen Ringe tragen und dass sie ihn hasst? Eine kleine Frau und ein großer Mann – vorstellbar, dass er das zurückbekommt, was er ein Leben lang ausgeteilt hat. Gut vorstellbar auch, dass er die Furie braucht, um sich lebendig zu fühlen. Während er beim Bier ihren Missmut erträgt, blicken wir uns ratlos in die jungvermählten Gesichter. Johannes Schneider

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