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Berlin: Ganz oben

Am Tag der Einheit hat auch der Fernsehturm Geburtstag. Der sei längst Gesamtberliner, sagt sein Chef

Hartmut Wellner wird richtig lyrisch, wenn er über ein Naturphänomen spricht, das es ganz selten gibt, nur dreimal im Jahr: Da liegt die Wolkendecke sehr tief und schwer wie Blei über der Stadt, aber ins Café des Fernsehturms strömt das Sonnenlicht: „Man sitzt genau über der weißen Watte, wie im Flugzeug. Der Himmel ist voll blauer Farbe. Die Stadt da unten kannst du nicht sehen, nur ahnen, denn ganz Berlin ist eine Wolke.“

Der Türmer vom Alexanderplatz, Berlins höchster Gastronom, zieht jedes Jahr am Nationalfeiertag Bilanz: Der Kalender und das SED-Politbüro wollten es, dass der UKW- Funk- und Fernsehturm Berlin justament am 3. Oktober 1969 zu Ehren des 20. Jahrestages der DDR eingeweiht wurde. Die DDR ist weg, der Turm steht da, Betonschaft mit Lolli, das Kreuz des Ostens (wenn die Sonne die Kugelhaut bestrahlt) – längst ein Gesamtberliner langer Lulatsch, ein bisschen größer und jünger als sein Kumpel in Charlottenburg.

Die Bilanz im 36. Turm-Jahr: 2004 kamen 1 142 000 Besucher – zu keiner Zeit nach der Wende waren es mehr. Eine Befragung im Juli/August 2005 ergab, dass die meisten – 38,5 Prozent – aus den alten und 22 Prozent aus den neuen Bundesländern kamen, 19,7 Prozent waren Berliner, 19,8 kamen aus dem Ausland, aus 31 Staaten, an der Spitze Touristen aus der Schweiz, Österreich, Dänemark, Frankreich und den USA. Hartmut Wellner, der von hoher Warte auf das Zusammenwachsen der Stadt blickt, freut sich über so viel Internationalität, „denn das bedeutet ja, dass Berlins Attraktivität immer mehr zunimmt“.

Die Crew in Küche, Restaurant und Aussichtsplattform wurde zwar von 380 auf 75 verkleinert, ist aber noch immer wie eine Familie, die dauernd Neues beherrschen lernt. „Wir waren im Umgang mit Soljanka, Zigeunersteak und anderweitig vergewaltigtem Fleisch geübt“, sagt Wellner, der gelernte Koch von der Ostseeküste, der seit 1989 als Chef im Telecafé arbeitet, „aber das Zubereiten von Langusten und anderen leckeren frischen Sachen ohne die frühere Vorratswirtschaft wollte erst einmal gelernt sein“. Die Weinkarte von damals war überschaubar und bestand aus Pinot Noir, Erlauer Stierblut, Murfatlar, Tokaier. Heute möchten die Damen schon ein paar Dutzend Sorten mehr für ihre Empfehlungen im Kopf haben.

Die Einheit brachte Hartmut Wellner viele Erlebnisse und neue Chancen. „Das Schönste war, als Michail Gorbatschow bei uns 1998 seinen Geburtstag feierte“, auch den Mimen Erwin Geschonneck zog es zu seinem 90. zum Turm, und jüngst kamen „ganz reizende Leute inkognito“: Dänemarks Kronprinzenpärchen. Bei der Maifeier des DGB erschien heuer fast das ganze Kabinett, und 250mal wurde (seit 1998) in der Turmkugel geheiratet. Es geht ziemlich locker zu in Deutschlands höchstem Turm-Restaurant: Silvestergala, Neujahrsbrunch, Theater im Turm, Sommersonnenwendfrühstück (um 4 Uhr), Sponsoring mit der „Nacht der blauen Herzen“ zur Unterstützung des Vereins „Kinder in Gefahr“. Mitte Oktober beim Lichtfestival wird der Turm des Nachts blau angestrahlt, ab 2. Januar erklärt man den Turm bis 18 Uhr zur raucherfreien Zone, während der Fußball-WM soll bis 2 Uhr nachts, am Wochenende sogar bis 4 Uhr geöffnet sein. Fehlt nur noch, dass sie die Kugel zu einem riesenhaften Fußball umfunktionieren: Berlin balla balla . . .

Wo ist Osten, wo Westen? „Wir sind die Mitte“, sagt Hartmut Wellner, „und wir drehen uns im Café alle halbe Stunde einmal ’rum, das heißt, wir blicken in alle Himmelsrichtungen.“ Dorther kommen auch die Waren, Hauptsache, sie sind frisch, pünktlich, gut. Übrigens essen die Gäste von Jahr zu Jahr mehr, egal, woher sie sind, sagt der Turmvater. Er sitzt auf gepackten Koffern und düst sofort nach dem Jubiläum gen Shanghai und Hongkong zum nächsten Treffen der Weltvereinigung der höchsten Fernsehtürme. Aber dies muss vorher noch zur Feier des Einheitstages gesagt werden: „Es macht Spaß zuzusehen, wie sich ringsherum da unten vieles verändert: In Prenzlauer Berg und Mitte wurden die Dächer rot und manche Lücken geschlossen, einstige Brachen, wie der Potsdamer Platz, sind bebaut, neue Häuser wuchsen, wo alte waren – nur ein wolkenloser Sonnenuntergang ist von hier oben heute genau so irre wie er gestern war und morgen sein wird.“

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