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Berlin: Geb. 1927

Rudolf Blomeyer

Rudolf Blomeyer

Die Granate explodierte direkt unter dem Tisch. Die sieben Männer, die Karten gespielt hatten, waren sofort tot. Der achte war einen Moment zuvor aufgestanden und an sein Bett getreten. Er überlebte, schwer verwundet.

Die Deutschen hatten das Gefangenenlager vermint. Es war zunächst für russische und tschechische Kriegsgefangene gebaut worden. Dann wurden die Deutschen dort selbst interniert.

„Na, da ist ja noch ein Toter!“ Die Männer, die ihn in den Trümmern fanden, hatten wenig Hoffnung. Aber er überlebte, vegetierte im Lazarett, kam wieder auf die Beine, schlug sich durch nach Westen, nach Westfalen, eine Odyssee, bis er frühmorgens vor dem Hof der Eltern stand.

Kein Licht, und er wollte nicht lärmen. Also ging er in den Kuhstall. Ein lautes Hallo schreckte ihn auf: „Na, dann mach dich doch mal lieber gleich an die Arbeit, Junge!“ Der Melker hatte ihn mit dem Knecht verwechselt.

Wer den Krieg überlebte, hatte danach zwei Gesichter, ein lachendes und ein erstarrtes. Rudolf Blomeyer litt an schweren Verbrennungen, er hatte ein Auge verloren, war taub auf einem Ohr. In einer der Folgeoperationen war ein Nerv beschädigt worden, so dass die eine Gesichtshälfte gelähmt blieb. Wenn er lachte, dann nur auf einer Seite, wenn er die Stirn in Falten legte, dann nur links, und auch die Altersfalten verteilten sich einseitig. Es gab Schlimmeres, sicher: Rudolfs älterer Bruder war in den letzten Kriegsmonaten gefallen. Er hingegen hatte Glück gehabt, er war davongekommen, er musste dankbar sein.

Das Glasauge musste jeden Abend herausgenommen werden, die Augenhöhle eiterte leicht. Fremde, die nichts von seiner Verwundung wussten, hielten seinen Gesichtsausdruck oft für zynisch. Im Gespräch mit vielen Personen schien er unaufmerksam, ganz in sich gekehrt. Nicht weil er wirklich desinteressiert war, er konnte in einem größeren Stimmengewirr einfach keine Einzelstimmen mehr unterscheiden.

Er kam sich entstellt vor, zuweilen, obwohl auf den Bildern ein gut aussehender junger Mann zu sehen ist, dessen verhaltene Melancholie im Profil sehr anziehend wirkt.

In jungen Jahren wäre Rudolf Blomeyer gern seinem Vater als Landwirt nachgefolgt – aber nach dem Krieg war alles anders.

Er ging nach Heidelberg, studierte Medizin, ließ sich zum Psychoanalytiker ausbilden und machte Karriere, hier in Berlin. Er heiratete, hatte zwei Kinder, die ganz und gar nicht unter ihm als Analytiker litten – auch wenn sie zuweilen selbst sehr frühzeitig zur Analyse angehalten wurden: „Jetzt sag mal, was hast du dir denn dabei gedacht?“ Natürlich nichts, eigentlich, was denkt man schon, wenn man Unfug macht, aber das kann man als Kind nur sehr mühsam formulieren – was wiederum ungemein die Kreativität anregt.

Die großen Spiele der Analytiker hingegen hat Rudolf Blomeyer nicht mitgespielt, die mächtigen Theorien, das Wortgeklingel, die Versprechungen, sich aus jedem Kummer befreien zu können, das alles war ihm zu anmaßend. Seinem Verständnis nach waren Psychoanalytiker Menschen, die naive Fragen stellen dürfen, ohne dafür belächelt zu werden: Gibt es Gott, was ist Liebe, wo versteckt sich unser Selbst.

Was Gott anbelangte, so war sich Rudolf Blomeyer nach dem Krieg nicht mehr sonderlich sicher, ob er existierte. Was die Liebe anging, so hoffte er darauf, sein Leben lang – schon weil sie eine Fährte aufzeigte zu jenem eigentlichen Rätselwesen, das sich uns dauernd entzieht. Unser Selbst, nennen wir es Ich, nennen wir es Ego, wo verbirgt es sich?

Im Spiegel, denken manche, und starren eitel hinein, oder ganz tief im Inneren, widersprechen die vermeintlich uneitel, esoterisch Gesinnteren. Rudolf Blomeyer fand nach langem Nachdenken die bessere Antwort: sowohl als auch. Er wusste, dass man sein Gesicht verlieren kann, auf verschiedene Weisen, ohne deshalb gänzlich deformiert zu sein – und doch verkümmert die Seele auf Dauer, wenn wir nicht mehr in den Spiegel sehen können, weil wir die Achtung oder auch nur die Sympathie für uns selbst verloren haben. Denn auch, wenn andere sie nicht sofort entziffern können, unsere Geschichte steht in unserem Gesicht geschrieben, und wir lesen sie dort Tag für Tag. Und je missmutiger wir sie zur Kenntnis nehmen, desto schneller wird das Lächeln auch in anderen Gesichtern schwinden. Umgekehrt, je ehrlicher unser Blick auf uns selbst, desto ehrlicher der Blick, den wir von anderen erwarten können.

Ein großes Thema, die Asymmetrien und Symmetrien des Lebens, darüber konnte er nächtelang diskutieren, über die Ausgeglichenheit mit sich selbst und anderen. Wenn dann aber auf einer Party der Zufall es fügt, dass ein guter Analytiker neben einem guten Tänzer sitzt, dann wird die Frage, wie denn und von wem Harmonie zwischen zwei Menschen herzustellen sei, in der Regel schneller, besser und ansehnlicher von dem Tänzer beantwortet werden.

Rudolf Blomeyer war ein starker Tänzer – und ein guter Analytiker. Er wusste um diese seltsame, sehr prekäre Balance zwischen Kopf und Körper, Seele und Gesicht, denn er hatte sie selbst durchlitten.

Man kann an einer solchen Verunsicherung zugrunde gehen, man kann aber auch Sicherheit daraus gewinnen – das war die einzig verlässliche Gewissheit, die er seinen Patienten mitteilen konnte; für diese Bescheidenheit haben sie ihn geliebt.

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