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Mahnmal an den Schienen. Zwischen 1941 und 1945 wurden rund 55000 Berliner Juden mit Zügen nach Theresienstadt, Riga, Lodz oder Auschwitz gebracht und getötet.

© dpa

Gedenken an Deportationen: Weiße Rosen an Gleis 17

Vor 70 Jahren wurden die ersten Berliner Juden deportiert - insgesamt wurden rund 55000 Juden in den Tod geschickt. Nun wird ihrer am Bahnhof Grunewald mit weißen Rosen gedacht.

Es dauerte nur wenige Minuten, sie sollte nur ein paar Sachen packen, dann verschwand sie für immer. „Machen sie sich fertig, viel werden sie nicht brauchen“, habe die Gestapo zu der Frau gesagt, als die Nazis sie abholten. Inge Deutschkron, 89, erinnert sich gut an den Tag im Oktober 1941. Sie wohnte damals bei dieser Frau in der Innsbrucker Straße 58 in Schöneberg, einer Freundin ihrer Mutter. „Ich melde mich sobald ich kann“, habe die Frau noch gesagt. Zwei Tage später, am 18. Oktober, wurde sie in den ersten Deportationszug gesteckt, der Berlin verließ. Inge Deutschkron hat nie wieder etwas von ihr gehört.

70 Jahre ist es nun her, dass der erste sogenannte „Osttransport“ vom Güterbahnhof Grunewald in Richtung des Ghettos Litzmannstadt (Lodz) im heutigen Polen abfuhr. Mit 1089 jüdischen Kinder, Frauen und Männern, Berliner Ärzten, Lehrern und Geschäftsleuten, eingepfercht in die alten Waggons der Reichsbahn, geschickt in den Tod. Zum Jahrestag am kommenden Dienstag findet am Denkmal „Gleis 17“ am S-Bahnhof Grunewald eine öffentliche Gedenkveranstaltung des Senats und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin statt. „Ich wünsche mir, dass möglichst viele Berlinerinnen und Berliner diesem Aufruf folge leisten und am 18. Oktober mit einer weißen Rose zum Mahnmal kommen, um der Opfer zu gedenken“, sagte Kulturstaatssekretär André Schmitz. Es sei das erste Mal, dass Berlin derart an den Beginn der Verschleppung und Ermordung der jüdischen Mitbürger vor 70 Jahren erinnere. Neben dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und Lala Süsskind, der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, wird auch Inge Deutschkron zu den Gästen sprechen. Bis zum 27. März 1945 wurden 55 000 der 160 000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden Berlins von den Nazis vernichtet. In mehr als 60 Transporten wurden sie unter anderem nach Litzmannstadt, Minsk, Riga und Auschwitz gebracht. Vor allem ältere Berliner Juden wurden zudem seit Juni 1942 in über 120 Transporten in das Ghetto Theresienstadt in Böhmen gefahren. Viele von ihnen starben dort, andere wurden weiter zu Vernichtungsstätten gebracht. Zwei Tage vor dem ersten Deportationszug hatte die Gestapo damit begonnen, Juden ins Sammellager Levetzowstraße in Moabit einzuweisen, in das Gebäude der Synagoge. Von dort mussten sie „in einem langen Zug durch die Stadt laufen“, nach Grunewald, wie Hildegard Henschel, Ehefrau des letzten Berliner Gemeindevorsitzenden, später schrieb.

Inge Deutschkron überlebte den Naziterror. Ein Bekannter der jüdischen Gemeinde gab ihren Namen nicht an die Gestapo weiter, die sie deswegen nicht aus der Wohnung in der Innsbrucker Straße holte. Von 1941 bis 1943 ließ sie der Unternehmer Otto Weidt in seiner Blindenwerkstatt in Mitte arbeiten, und „wenn die Gestapo kam, warnte uns ein Mädchen mit einer Klingel und wir türmten“, erinnert sich Deutschkron. Andere nichtjüdische Freunde versteckten sie ab November 1942, als sie in einem englischen Radiosender das erste Mal von Auschwitz, von Massenerschießungen und Vergasungen gehört hatten. Deutschkron schlief in einem Ziegenstall in Potsdam oder hinter der Ladentheke eines Papiergeschäfts in Halensee. Die Furcht, entdeckt zu werden, verfolgte sie täglich. „Angst kenne ich seit meinem zehnten Lebensjahr. Aber die Alternative war Auschwitz.“

Nach dem Krieg ging sie nach England, kam zurück nach Deutschland, ging nach Tel Aviv, zog wieder nach Berlin. Das Theaterstück „Ab heute heißt du Sara“ nach Deutschkrons Buch „Ich trug den gelben Stern“ läuft seit 1989 im Gripstheater in Tiergarten. Deutschkron arbeitet als Journalistin und Autorin und gibt Führungen durch Weidts Werkstatt, die mittlerweile ein Museum ist. Seit fünf Jahren bringt sie mit einer eigenen Stiftung vor allem Kindern und Jugendlichen den Nationalsozialismus näher. So will sie dem Wiederaufleben von rechtsradikalen Tendenzen entgegenwirken. „Die müssen wissen, was Nationalsozialismus bedeutet hat“, sagt sie. „Sie dürfen nie vergessen, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat.“

„... abgeholt!“, Gedenken an den Beginn der nationalsozialistischen Deportationen von Juden aus Berlin vor 70 Jahren, 18. Oktober, 14 Uhr, Denkmal „Gleis 17“ am S-Bahnhof Grunewald.

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