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Bescheidene Wünsche. Die winterlich verschneite Stadt macht vielen das Leben schwer. Ältere Menschen bleiben derzeit aus Vorsicht lieber drinnen, und wer einen Behinderten im Rollstuhl zu bewegen hat, muss Schwerstarbeit leisten. Foto: Kumm/dpa

© picture alliance / dpa

Der Winter als Handicap: Gefangene des Wetters

Alte Menschen trauen sich nicht raus, Rollstuhlfahrer bleiben im Schnee stecken: Für viele Menschen ist derzeit selbst der kürzeste Weg draußen zur Angstpartie geworden.

Nur 150 Schritte liegen zwischen Dagmar Gails Wohnung und ihrem Büro im Nebenhaus. Vorsichtig setzt sie ihre Krücken auf, findet wenig Halt im knöcheltiefen Schnee. Ihr rechtes Bein zieht sie nach, es ist ihre Prothese. Unsicher stakt die kleine Frau den Gehweg entlang, die schneebedeckte Einfahrt hinauf. An der Eingangstreppe macht sie Halt und atmet tief durch. Sie klemmt sich die Krücken unter den Arm und beginnt die vereisten Stufen hinaufzusteigen.

Weil die Hausverwaltung den Schnee nicht zuverlässig räumt, ist der kurze Weg für die 66-Jährige zur täglichen Angstpartie geworden. „Jedes Mal, wenn ich im Hausflur stehe, bin ich froh, es geschafft zu haben“, sagt Dagmar Gail. Sie ist die Vorsitzende der von ihr gegründeten Amputierten Initiative, der einzigen Organisation, die sich bundesweit für die Bedürfnisse von Amputierten einsetzt. Dagmar Gail kann nicht einfach zu Hause bleiben, lieber schläft sie im Büro, wie letzten Winter. Sechs Wochen hat sie damals dort übernachten müssen. Auf einem Klappbett. Jeden Abend hat ihre Mitarbeiterin Monika Baumann es zwischen den Aktenordnern aufgestellt. Sie hat Wäsche und die Badeprothese gebracht, so dass Dagmar Gail sich waschen konnte. „Es war bedrückend, 24 Stunden am Tag eingeschlossen zu sein“, erinnert sie sich.

Man muss nicht behindert sein, um vom Wetter behindert zu werden. Viele alte Menschen trauen sich derzeit aus Angst vor Knochenbrüchen nicht vor die Tür. Inge Frohnert aus Spandau zum Beispiel. Sie ist 86 Jahre alt und Vorsitzende des Arbeitskreises Berliner Senioren. „Ich gehe derzeit nicht raus, lasse mir alles besorgen“, sagt sie. „Es ist einfach zu gefährlich, denn es ist ja nicht richtig gestreut.“ Falls sie doch mal das Haus verlasse, nehme sie ein Taxi. Eine Bekannte habe sich im vergangenen Jahr in der Wohnsiedlung den Arm gebrochen und musste längere Zeit im Krankenhaus liegen. Weil sie keine Zeugen hatte, wurden ihre Schadensersatzansprüche abgeschmettert. So etwas will Frohnert nicht erleben.

Auch Geh- oder Sehbehinderte können ihr normales Leben nicht führen. Jürgen Schneider, Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung, spricht von gut 200 000 Betroffenen in der Stadt. „Sie befinden sich in einer Ausschlusssituation“, sagt er. Sogar die Behindertenfahrdienste klagen über Schneeberge am Straßenrand, über die sie die Rollstühle nicht hieven können. Manchmal müssen die Fahrer ihre Kunden sogar morgens zu Hause stehen lassen. „Mit den Rollstühlen ist es derzeit katastrophal“, sagt Marco Paul vom Fahrdienst Roll-Mobil. „Der Rollstuhl ist im Schnee schwerer zu bewegen, der Schnee sammelt sich in der Griffleiste an den Rädern, so dass man dann den ganzen Dreck im Auto hat, und vor den Einrichtungen wie zum Beispiel Behindertenwerkstätten ist nicht geräumt.“ Das alles mache den Job derzeit schwer.

Dagmar Gail hatte gehofft, dass es diesen Winter besser wird. Sie sieht jedoch keine Veränderung durch das verschärfte Gesetz. Die Hausverwaltung ihres Büros kümmert sich weder um den öffentlichen Gehweg noch um die Einfahrt zum Haus. Dagmar Gail schreibt jedes Mal ein Fax, wenn wieder nicht geräumt wurde, und ruft das Ordnungsamt.

Sie ist nicht die Einzige. Seit Tagen gehen viele Beschwerden über schlecht oder gar nicht geräumte Gehwege bei den Ordnungsämtern ein. „Diejenigen, die letztes Jahr nicht ordentlich geräumt haben, räumen auch dieses Jahr nicht“, sagt Barbara Loth (SPD), Gesundheitsstadträtin von Steglitz-Zehlendorf. Wenn, wie bei Dagmar Gail, private Zugänge zum Haus betroffen seien, greife das Straßenreinigungsgesetz ohnehin nicht.

„Ich finde es respektlos, so mit uns umzugehen, wohl wissend, wofür wir hier arbeiten“, sagt Gail. Für sie ist die Verletzungsgefahr bei einem Sturz viel höher als für zweibeinige Menschen. Eine Verletzung würde Abhängigkeit von anderen bedeuten. Eigenständig leben zu können, dafür kämpft sie seit ihrer Amputation vor 20 Jahren unermüdlich. Lena Kampf/Fatina Keilani

Lena Kampf, Fatina Keilani

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