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Berlin: Genosse Erstwähler

Die PDS setzt auf die Spätgeborenen / Ein Besuch im „Wahlquartier 2002“

Von Thomas Loy

Wie sieht so eine Partei eigentlich von innen aus? Also im Kern. Dort, wo sich die Kompetenzen ballen und Visionen ihren Ausgang nehmen. Bei der PDS kann man schön reinschauen in den Kern, durch große gardinenlose Schaufenster. Früher wurden dort in Mitte Möbel ausgestellt. Jetzt heißt das Geschäft in der Wilhelmstraße „PDS-Wahlquartier 2002“.

Die heiße Wahlkampfphase hat begonnen, sowas Ähnliches wie ein Schlussverkauf. Flyer, Sticker, T-Shirts, Tassen, Kondome – alles muss raus. 25 Verkaufsstrategen verteilen sich auf zwei Räume, einer davon für Nichtraucher. Nur die Kunden bleiben aus. Wahrscheinlich liegt es am Wetter.

Der Wähler ist scheu und versteckt sich gerne in Clubs oder am Strand. Besonders wenn er zu den Erst- oder Jungwählern gerechnet wird. Dominic Heilig ist selbst noch jung genug, um dieses Verhalten an sich studieren zu können. Er sieht sogar aus wie jemand, der keinen Bock hat auf dieses ganze Politikergenöle. Der Jungwähler fordert Authentizität, sagt Heilig gerne. Deshalb läuft er nicht mit PDS-T-Shirt rum, sondern monochrom schwarz von den Stachelhaaren bis zur Schuhsohle. So trifft er sich auch mit seinen Freunden. Heilig ist Jugendwahlkampfmanager der PDS. Sonst studiert er Politik in Potsdam. 110 000 Euro darf er bis zum 22. September eigenverantwortlich ausgeben, damit junge Menschen das Richtige ankreuzen.

10-Uhr-Besprechung. Thema: Auftaktveranstaltung zur heißen Wahlkampfphase. Das Sagen haben die Graubärtigen im Team. Alles wird sehr gut laufen, berichtet Gert. „Wir gehen von einer stabilen Wetterlage aus.“ Der andere Graubärtige, Axel, fragt mit einem Hauch von Ironie, ob denn die Bekleidung der auftretenden PDS-Spitzenkräfte zu einem harmonischen Gesamtbild beiträgt. Man richte sich nach Brecht, antwortet Gert. Alle Farben seien recht, solange sie grau sind. Die Besprechung verläuft weiterhin heiter. Die lange Historie sozialistischer Feldversuche bietet immer wieder Stoff für gelungene Pointen.

Bei Reizwörtern wie „Winkelement“ und „Westpaket“ können Erstwähler nur gequält mitgrienen. Deren politisches Gedächtnis reicht maximal bis zum Einheitskanzler Kohl. Gerade diese vorurteilslosen Spätgeborenen sind aber die Chance der PDS und machen Heilig zu einem der wichtigsten Strategen im Wahlkampfquartier. Er koordiniert die Arbeit vor Ort. Das Konzept ist einfach: Feste und Konzerte organisieren oder mit dem PDS-Bus Schulen und Kneipen anfahren, eine Art aufsuchende Parteiarbeit. Dabei brechen die ehrenamtlichen Wahlkämpfer nicht einfach eine politische Diskussion vom Zaun. Das wäre ganz falsch.

Der Jungwähler will Feuerzeuge, Kondome, Lollis und vor allem zeitgenössische Musik. Übergreifendes PDS-Motto: Das Leben ist „dEine Party“. Bereitwillig lässt sich der Jungwähler dann witzige Polit-Flyer zustecken: Stoppt Stoiber! Oder: Ossis in die Produktion. Und ein paar Bier später, bei steigendem Gute-Laune-Pegel, ist sogar ein richtiges Gespräch drin. Dabei ließen sich dem Jungwähler ganz ehrliche Fragen und Kommentare entlocken, sagt Dominic Heilig – viel authentischer als auf den verkrampften Podiumsdiskussionen.

Apropos Musik. Im Wahlkampfquartier legt meistens Alt-DJ Axel auf. Ostschlager mit Andreas Holm. Der war mal eine große Nummer in der DDR-Unterhaltung. Axel summt mit und lässt die Lästereien aus dem Team widerspruchslos an sich abperlen. Kann natürlich auch PR-Taktik sein. „Wir sind tolerant", erklärt Quartierchefin Halina Wawzyniak. Und überdies solidarisch. Mittags wird reihum gekocht. Käme ein Wähler herein, würde er natürlich was abkriegen. Aber es kommt keiner.

Im Anschluss spielen die Genossen Martin und Harald im Flur eine Partie Pool-Billard. Auch darin verbirgt sich natürlich eine Botschaft: Obwohl die heiße Wahlkampfphase begonnen hat, gönnen sich die Strippenzieher unverdrossen ihre Mittagspause. Harald hat lange überlegt, wie er dem Reporter diese entspannte Ruhe im Wahlquartier erklären kann. Schließlich fällt ihm was Überzeugendes ein: „Die Gelassenheit der Sieger“. Schon wieder eine Pointe, sogar ohne die sozialistischen Vorväter zu penetrieren.

Dominic Heilig hat andere Sorgen. Sandra Brunner, eine der Jung-Kandidatinnen, soll eine Diskussion zu Fluglärm leiten. Die Landesverbände sind mit Zahlungen im Verzug. Und Katja, die Heilig zuarbeitet, ist was ganz Blödes passiert: Sie hat einen Genossen gesiezt, sogar schriftlich. Jetzt ist der Gesiezte vergrätzt. Katja ist kein Parteimitglied und konnte nicht wissen, dass die Toleranz der Genossen weit reicht, aber nicht bis zum bourgeoisen Sie. Dominic raucht Zigarette Nummer sechs der Marke „Sparta“ und erzählt von seiner behüteten Kindheit. Aufgewachsen ist er in Marzahn, was natürlich ein Privileg war. Die Mauer habe er gar nicht wahrgenommen. Als sie dann abgerissen wurde, entwickelte Heilig ein „soziales Gewissen“, schaute den Parteien streng ins Programm und entschied sich für die PDS. „Mit Leuten wie Gysi hatte das gar nichts zu tun.“ Dessen Rücktritt fand er übrigens wahlkampfstrategisch absolut in Ordnung. „Junge Menschen haben eine hohe Moralität.“

Aber wen sollen sie jetzt wählen?

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