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Berlin: Gerhard Weber (Geb. 1947)

Wer bestimmt, was normal ist? Ist der Wahnsinn eine Erfindung?

Ein Jahr, bevor Gerd geboren wird, kehrt sein Vater aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück, verändert, gebrochen. Er bleibt stumm, er wird dem Sohn immer fremd bleiben. Gerd möchte verstehen, den Vater, das Leid, an dem man nicht rühren darf, das vergessen werden soll. Ich kann nur verstehen, wenn ich etwas von dem durchlebe, was mein Vater durchlebte, hofft Gerd – und geht nach der Schule zur Bundeswehr.

Dann studiert er Psychologie. In der Universitätsklinik in Mainz muss er ein Praktikum absolvieren. Das Büro des leitenden Psychologieprofessors liegt im Souterrain des Gebäudes. Der Professor jammert immerzu: Wir Psychologen, sitzen im Keller, die wahren Mediziner in hellen Räumen über uns. Gerd überlegt einen Moment, studiert dann Medizin, wird Psychiater.

Wer bestimmt, was normal ist? In den sechziger und siebziger Jahren gibt es darum heftige Diskussionen. Der Wahnsinn, so hört man häufig, sei eine Erfindung der Gesellschaft. Es gehe um Macht. Macht, die zu Fehldiagnosen führe, die die Patienten stigmatisiere, sie ein- und ausschließe. Die Antipsychiatrische Bewegung entsteht. Befreit die Irren, fordern ihre Anhänger. In Italien werden sämtliche Anstalten aufgelöst.

Gerd, ein junger Psychiater nun, sieht Menschen, vollgestopft mit Psychopharmaka in überfüllten Schlafräumen ohne eigene Kleidung, ohne Eigentum, weit weg von zu Hause. Mit ein paar Kollegen fährt er zum Krankenhaus Havelhöhe. Sie trennen mit einem Bolzenschneider ein Loch in den Zaun, schleichen in die Klinik, holen eine Patientin heraus. Die Frau wird in eine Wohnung gebracht, Medizinstudenten, mitten im Examen, kümmern sich um sie, eine Woche lang. Dann können sie nicht mehr.

Der Frau wurde ihre Freiheit genommen, in doppeltem Sinn, sagt Gerd viele Jahre und Einsichten später. Da hat er längst eine eigene Praxis in Berlin. Das Gespräch, in der Tradition Freuds, ist für Gerd Mittelpunkt der Therapie. Wann immer möglich, verzichtet er auf Medikamente und Apparate.

Und er fährt regelmäßig in Pflegeheime, betreut mehr als 500 Menschen, manche stark dement, die meisten allein. Er unterscheidet nicht zwischen der alten Frau, die im Bett ihres winzigen Heimzimmers mit entrücktem Blick unverständliche Geschichten aus einer fernen Zeit erzählt, und der geschmackvoll gekleideten Dame, die im weichen Ledersessel seiner Praxis sitzt und über die Geliebte ihres Mannes schimpft. Nie war er hochmütig, man konnte ihn immer fragen und infrage stellen, sagt ein Freund und Kollege.

Genau das geschieht viel zu selten, das Fragen, das Infragestellen, das Sprechen mit den Kollegen. Ein Telefonat, schnell, zwischen zwei Patienten, ein kurzer Austausch auf dem Flur im Pflegeheim. Man muss sich kennenlernen, treffen, Probleme diskutieren, denkt Gerd. Ein interdisziplinärer Stammtisch entsteht. Die Ärzte sitzen zusammen, diskutieren, wann man auf Psychopharmaka verzichten kann – ein bewussteres Erleben für die Patienten, dafür häufiger Schreien, Umsichschlagen, auch weniger Ruhe für die Pfleger. Und die Angehörigen, wie geht es denen? An 22 Stammtischen nimmt Gerd teil.

Dann die Diagnose: Lungenkrebs. Gerd arbeitet nur noch gelegentlich in der Praxis. Fährt aber weiter in die Heime. Sitzt am Bett einer Frau, ihr Mund leicht geöffnet, die Wangen tief eingefallen, hält ihre Hand, hustet dabei und ringt nach Luft.

Am 1. April findet die Beisetzung statt. Ein Psychologe, ein Freund, hält die Trauerrede. Anschließend treten ehemalige Patienten ans Mikrofon, sprechen, zum ersten Mal vor vielen Menschen, danken Gerd. Tatjana Wulfert

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