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Berlin: Gewalt zwischen Linken und Rechten: Der Staatsschutz übt für den Ernstfall

Das Fernschreiben klang alarmierend: Bei einem Sprengstoffanschlag am Lehrter Bahnhof seien gestern fünf Personen verletzt worden. Am Tatort hätten Staatsschützer Flugblätter mit rechtsextremem Hintergrund gefunden.

Das Fernschreiben klang alarmierend: Bei einem Sprengstoffanschlag am Lehrter Bahnhof seien gestern fünf Personen verletzt worden. Am Tatort hätten Staatsschützer Flugblätter mit rechtsextremem Hintergrund gefunden. Doch das Fernschreiben war fiktiv, das Szenario nur eine Übung - mit ernstem Hintergrund: Berlins Polizei bereitet sich auf den Ernstfall vor. Denn Innensenator Eckart Werthebach (CDU) spricht von einem "dramatischen Anstieg" der Gewalt zwischen Rechten und Linken.

Neu belebt wurde die Diskussion durch die nach Steinwürfen abgebrochene Demonstration der NPD am vergangenen Sonnabend. CDU-Generalsekretär Ingo Schmitt warnte mit Verweis auf die Demo gar vor "Weimarer Verhältnissen". Werthebachs Sprecher Stefan Paris nennt als Beispiel für eine Eskalation die Gewalt Rechtsextremer gegen Linke. "Wir haben die Vermutung, dass dort noch mehr Potenzial besteht."

Die Innenverwaltung stützt ihre Befürchtung auf die Erkenntnisse der Polizei und des Verfassungsschutzes. Die Statistik zeigt den "dramatischen Anstieg" allerdings nicht. 1998 zählten die Sicherheitsbehörden acht Gewalttaten von Rechten gegen Linke, 1999 waren es gerade drei Straftaten, in diesem Jahr bislang sieben. Sieben Straftaten bei einer Szene von rund 740 gewaltbereiten Rechtsextremisten - Sicherheitsexperten betrachten das als einen sehr niedrigen Wert. Deshalb macht den Ermittlern nicht die Zahl der Straftaten, sondern das gestern geübte Szenario Sorgen: dass Rechtsextreme zu scharfen Waffen greifen. "In diese Richtung entwickelt sich einiges", sagt ein leitender Beamter.

Am Wochenende beschäftigten sich die Sicherheitsbehörden vor allem mit militanten Linken, die die Demo der NPD-Anhänger mit Flaschen und Steinen bewarfen. Allerdings belegt die Statistik auch in diesem Bereich keinen "dramatischen Anstieg". Die Zahlen schwanken seit Jahren in einer etwa gleich bleibenden Spanne. Während die Polizei 1992 noch 38 Gewalttaten und 1993 sogar 44 Gewalttaten von Linken gegen Neonazis in Berlin zählten, weist sie für dieses Jahr bisher 22 Gewalttaten aus - genau die Hälfte. 1995 und Jahr darauf waren es je 13 Taten. Die Straftaten von Linken insgesamt haben sich in den vergangenen vier Jahren sogar annähernd halbiert: Zählte die Polizei 1996 noch 1256 Straftaten, waren es in diesem Jahr bisher nur noch 666.

Die Innenverwaltung geht dennoch davon aus, dass nach einem Tal in den vergangenen Jahren künftig wieder mehr Straftaten zu erwarten seien. Eine Steigerung der Gewalt gegen Rechtsextreme verzeichnen die Behörden vor allem seit dem Sommer. So schlugen am Sonnabend vier Vermummte einen NPD-Anhänger zusammen, der sich auf dem Weg zur Demo befand. Unter die bisher 15 Straftaten gegen die NPD in diesem Jahr fallen aber auch harmlosere Delikte wie der Diebstahl eines Transparentes an der NPD-Zentrale, ein gefälschter Postnachsendeantrag sowie ein imitiertes NPD-Flugblatt.

Schon 1992, nach der Neonazi-Gewalt in Rostock und nachdem ein Funktionär einer rechtsextremen Partei erstochen worden war, hatte der Berliner Verfassungsschutz vor einer eskalierenden "Gewaltspirale" zwischen Links und Rechts gewarnt. Die Prognose erwies sich als Irrtum: In den folgenden Jahren sanken die Zahlen um bis zu 80 Prozent. Fachleute warnen deshalb davor, die Lage erneut zu dramatisieren. "Der Vergleich mit Weimar ist völlig abweggig und absurd", sagt der FU-Professor Richard Stöss, der seit vielen Jahren rechtsextreme Parteien beobachtet. "Es gibt in der Bundesrepublik einen gesellschaftlichen Konsens über die verfassungsrechtliche Grundlage dieser Gesellschaft, den es in Weimar nicht gab. Die Situation ist überhaupt nicht zu vergleichen." Stöss hält zudem die reinen Zahlen über Gewalt für wenig aussagekräftig: "Im Gegensatz zu den Autonomen ist die NPD in der Gesellschaft repräsentativ, rechtsextreme Einstellungen sind fest verankert. Das ist ein erheblicher Unterschied."

Holger Stark

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