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Berlin: Günter Boldt (Geb. 1930)

Erst war er Chefredakteur, dann Friedhofsgärtner.

Bevor Günter erlebte, dass man mit Solidarität und Zusammenhalt viel erreichen kann, musste er sich allein durchs Leben schlagen. Die Mutter war gestorben, als er zwei war, der Vater war im Krieg gefallen, die Stiefmutter hatte ihn verstoßen. Im Waisenhaus hielt er es nicht lange aus. Während der Ferien im Sudetenland schnappte er sich ein Fahrrad und fuhr allein zurück nach Berlin. Bauern gaben ihm Proviant, keiner verriet ihn. Dann stand der schmale Günter verlassen in den Straßen der Stadt. Monate dauerte es, bis er aufgegriffen wurde.

Nach dem Krieg lernte er, dass es gemeinsam besser ging. Mithilfe des Lichtenberger Jugendamts bekam er einen Ausbildungsplatz als Gärtner. Er gab sich große Mühe, aber in der Abschlussprüfung ließ man ihn durchfallen. Zu Unrecht, wie er fand. Er ging zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, FDGB. Die halfen ihm, das Prüfungsergebnis anzufechten. Aber eigentlich wollte Günter etwas ganz anderes werden: Journalist. Auch da halfen ihm die Leute von der Gewerkschaft. Sie teilten ihm mit, was zu tun sei: der Partei beitreten und sich für den Dienst bei der Nationalen Volks armee verpflichten. Er tat, wie ihm geheißen.

Ab 1961 war er Chefredakteur der Betriebszeitung des Berliner Wohnungsbaukombinats. In der Redaktion kamen jede Menge Beschwerden von Mietern und Wohnungssuchenden an – und er nahm sie ernst. Seine Möglichkeiten, in den sozialistischen Verteilungsplan einzugreifen, waren begrenzt, aber er tat, was er konnte. So handelte er sich regelmäßig Ärger mit Vorgesetzten ein. Bald hatte er einen Ruf unter Wohnungssuchenden: „Frag den Boldt, der kümmert sich!“

Er kümmerte sich gern ums Gemeinwohl. Nach Feierabend schaute er nach dem Rosengarten, den er am Wohnblock in der Ostseestraße angelegt hatte. Da wohnte er mit Ilse und den beiden Töchtern.

„Günter war ein Stehaufmännchen“, das sagen alle, die ihn näher kannten. Nur im Frühjahr 1989 wusste er nicht weiter. Seine Tochter wollte rüber, in den Westen, und er sollte sich verpflichten, jeden Kontakt zu ihr abzubrechen. Er tat es nicht. Binnen weniger Tage wurde die Tochter mit ihrem Sohn mitsamt der inzwischen schwerbehinderten Ilse ausgebürgert, Günter seines Postens enthoben und als Friedhofsgärtner nach Pankow versetzt. Jetzt war er ganz allein, ein bisschen so wie früher, und keiner konnte ihm helfen. Er bekam einen Nervenzusammenbruch. Es waren nur wenige Monate, bis die Mauer fiel; Günter Boldt war nicht der Einzige, der auf so ein Wunder nicht zu hoffen wagte.

Und dann der nächste Schock, die Zwangsverrentung. Günter Boldt konnte es nicht fassen. Wie konnte einer wie er nicht mehr gebraucht sein? Da half nur die Flucht nach vorn. Er wechselte hauptamtlich ins Ehrenamt.

Das ehemalige Kinderzimmer wurde zum Archiv, Zeitungsartikel, Ordner, Akten und Gesetzbücher stapelten sich da. Sein Spezialgebiet war die Ost-West-Rentenüberleitung. Beim Sozialverband und der Volkssolidarität bot er Sprechstunden an, in denen er Bescheide erläuterte, Rentenausfalljahre klärte und Anträge und Beschwerden formulierte. Ab 2005 saß er dem Pankower Verein der Geringverdiener und Erwerbslosen vor, beriet Hartz-IV-Empfänger und pflegte den Lehrgarten eines Kindergartens namens „Milchzahnbande“.

Ilse war schon manchmal sauer, weil ihr Mann so viel für den Verein unterwegs war. Er schränkte sein Engagement ein – aber erst nachdem er ein paarmal zusammengebrochen war. Er hatte Leukämie. Und begann nun, seinen Abschied zu komponieren. Er erledigte noch die Steuererklärung für den Verein, ordnete alle Papiere und übergab die Sozialberatung an eine Kollegin. Allen Mitstreitern dankte er für die Zusammenarbeit. Vor seinem letzten Gang ins Krankenhaus besprach er mit der Familie, wie seine Beerdigung ablaufen sollte. Einen Tag später ist er gestorben.

Veronika de Haas

Veronika de HaasD

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