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Berlin: Günther Wiehler (Geb. 1944)

Der Untermann hat am meisten auszuhalten

Günthers Zwillingsbruder Heinz hatte die Artistenschule in Berlin besucht und war Akrobat bei den „Tornados“, einer erfolgreichen Gruppe von Schleuderbrett-Artisten. Als einige von ihnen 1967 in den Westen flohen, holte Heinz Günther nach Berlin, und nach ein paar Trainingseinheiten wurde Günther Untermann. Davor hatte er Tischler gelernt und als Präparator und Ornithologe gearbeitet.

Jetzt also war er Artist. Der Untermann hat bei einer Schleuderbrett-Nummer am meisten auszuhalten. Drei Männer musste Günther auffangen und tragen. Die unzähligen Verletzungen und Bandscheibenvorfälle, die er sich dabei zuzog, waren für ihn kein Grund, sich je krankschreiben oder eine Vorstellung ausfallen zu lassen. Die „Tornados“ traten in allen möglichen „Bruderländern“ auf, sie reisten auf Tournee durch die Tschechoslowakei und die Sowjetunion.

Am härtesten waren für die Zirkusleute die „Matinéen“, die Auftritte am Sonntagmorgen. Nach der Samstagabend-Vorstellung hatten sie im Gemeinschafts-Zirkuswagen den Feierabend begangen, und ausgerechnet am Sonntag mussten sie besonders früh heraus. Da kam es vor, dass sämtliche Artisten noch betrunken waren – aber nie so sehr, dass ein Zuschauer etwas gemerkt hätte. Jedenfalls hat es Günther so erzählt.

In der DDR war die Zirkus-Artistik genau geregelt, die „Tornados“ traten nur mit dem Zirkus „Berolina“ auf. Anfang der siebziger Jahre wagten sie das bis dahin Undenkbare: Sie machten sich selbstständig. Ihr erstes Engagement hatten sie im alten Friedrichstadtpalast, und es war ein Riesenerfolg. Sie durften sogar in den Westen: Mit ihrem Wolga samt Anhänger fuhren sie durch Skandinavien, in die Schweiz, nach Frankreich und erturnten der DDR wertvolle Devisen. Die Prioritäten aber waren klar: Anstatt noch eine Nacht in Paris zu verbringen, mussten sie wegen eines Auftritts in der Fernsehsendung „Mach mit, mach’s nach, mach’s besser“ direkt nach Karl- Marx-Stadt reisen.

Für eine Saison sprang Günther Wiehler bei den „Berolinas“ ein. Da fuhr ein Motorrad in der Manege im Kreis, daran befestigt war ein hoher Mast, an dem hing Günther kopfüber, hielt sich mit den Kniekehlen und den Partner mit den Händen. Zur Schwerkraft kam die Fliehkraft. Dann hielt er sich mit den Händen und den Partner mit den Füßen. Doch der hatte seine Füße nicht an der richtigen Stelle und wäre fast ins Publikum geflogen. Günther war sauer: „Wenn du abgestürzt wärst, dann wäre es deine Schuld gewesen, aber mir hätte man sie gegeben!“ Er hatte entzündete Kniekehlen, spürte seine Beine nicht mehr, weil die Nerven abgeklemmt waren. Der Lohn der Mühe: 13 Mark der DDR pro Vorstellung zusätzlich.

Günther und seine Kollegen entwickelten eine Slapstick-Nummer, in der sie sich in altertümlichen Kostümen über einen Sprungkasten schleuderten. Dafür nannten sie sich „HSG 13“. HSG stand in der DDR für „Haussportgemeinschaft“: In jedem Haus, fand die Regierung, sollten die Menschen gemeinsam Sport treiben. Darüber machten sie sich lustig.

1991 war Schluss mit der Schleuderei, seitdem arbeitete Günther wieder hauptberuflich als Tischler – was er in den Jahren davor immer nebenher getan hatte. Und er spielte weiter Fußball. Seit 1972 war er Mitspieler der „Mischzone“, einer bunt zusammengewürfelten Mannschaft in Berlin Mitte, gegründet von Theologiestudenten, inzwischen bestehend aus Hobbyspielern, die aus allen Schichten und vielen Ländern stammen, aus Brasilien, Japan, Russland, Algerien … Er war der Einzige, der von Anfang an dabei war, eine Respektsperson für alle. Dass manche jüngere Spieler bei Hagel oder Blitzeis nicht erschienen, konnte er nie verstehen. Wenn sie verletzt oder krank gewesen wären, vielleicht. Aber einfach so? Günther war immer da, zweimal in der Woche auf den Fußballplätzen an der Kleinen Hamburger und an der Invalidenstraße.

Als er länger fehlte, wussten alle, dass er schwer krank sein musste. Nach Operationen und Chemotherapie kam er wieder, dünner, etwas langsamer, aber er strahlte und rannte und schoss mit seinem berühmten Pieke-Schuss noch viele Tore.

Unsterblich ist er für „Mischzone“ auch durch einen Trick, mit dem er sich bei Schnee die Füße warm hielt. Das Problem kennt jeder Fußballspieler: Das eiskalte Matschwasser im Winter lässt die Füße frieren, bis sie taub werden. Günthers Mittel dagegen: Unter die Strümpfe je eine Plastiktüte, und das Eiswasser dringt nicht mehr bis an die Zehen. Jahr für Jahr machten ihm das mehr Mitspieler nach.

Auch im nächsten Winter wird die „Mischzone“ ihre Füße in Plastiktüten stecken, und sie wird ihrem ältesten Mitspieler, der nun nicht mehr mitspielt, dankbar sein. Falko Hennig

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