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© Doris Spiekermann-Klaas

Hansaviertel: Die Modellstadt

Ein Stadtviertel, geplant als Vorzeigeobjekt: Vor 50 Jahren wurde am Tiergartenrand das Hansaviertel eröffnet – und mit ihm die Ausstellung Interbau. Die namhaftesten Architekten hatten es geplant. Die Berliner waren stolz. Kinder schwärmten von der Seilbahn überm Gelände – und bauten es mit Lego nach.

Worin liegt der Reiz des Hansaviertels, heute, nach 50 Jahren? Wer abseits der Altonaer Straße durch das Quartier schlendert, ist von der dörflichen Ruhe überrascht. Er sieht zufriedene Menschen, sehr viel Grün und vor allem eine Architektur, die noch immer faszinierend modern ist. Das Viertel vermittelt das Gefühl des Neuen, auch wenn es hie und da angestaubt ist. Ein Vorzeigestück der Stadt, auf das viele Berliner, auch wenn sie hier nicht wohnen, stolz sind und es gern ihren Besuchern zeigen.

Seit Monaten ist vom Jubiläum die Rede, von Ausstellungen und Büchern. Aber der große Tag ist morgen: Am 6. Juli vor 50 Jahren wurde die Interbau eröffnet. Die Internationale Bauausstellung mit ihrem Herzstück, dem neuen Hansaviertel, dem Modell einer modernen Stadt. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich gut, mit welcher Aufbruchstimmung der Bau damals verbunden war. Dem Grundschüler, mit Ruinen groß geworden, erschien allein das Wort „Hansaviertel“ wie eine frische Brise.

Die Zeitungen schreiben 1957 täglich von dem neuen Projekt, zeigen Fotos der Baustelle – einen Wald von Gerüsten mit gewaltigen Sandbergen vor Ruinen im Hintergrund. Und als die Gerüste nach und nach fallen, kommen Häuser zum Vorschein, die so licht und frei sind, wie das Kind sie zuvor nie gesehen hat. Hoch oder flach, mit merkwürdigen Aufzügen, die nicht in jeder Etage halten.

Die Älteren erzählen beeindruckt, dass jedes Haus einen anderen Architekten von internationalem Rang hat. Dem Schüler prägen sich Namen wie Walter Gropius, Egon Eiermann und Oscar Niemeyer ein, der eine Stadt namens Brasilia baut und nun in Berlin ein Haus auf v-förmigen Stelzen. Das sieht spannend aus. Das Kind fragt: Ist das stabil?

Die Eltern erklären, das Hansaviertel zeige, wie man anderswo wohnt. Etwa in Finnland, Schweden. Oder in Frankreich, wo winzige Balkone üblich sind. Das Viertel gilt als Hausmodell der großen weiten Welt. Wer hier einziehen darf, wird beneidet, Sozialwohnungen sehen sonst anders aus.

Die Grundrisse sind ungewöhnlich, es gibt in einigen Häusern „Durchreichen“ von der Küche zum Wohnzimmer, auch von „Müllschluckern“ ist die Rede, ein bislang unbekanntes Wort. Die Eltern haben sogar Bekannte, die dort einziehen und von großen Fenstern schwärmen, vom Licht, von den warmen Wohnungen und den weiten, begrünten Abständen zwischen den Häusern.

Da ist aber auch etwas, das die Kinder dieser Zeit bedrückt: In den Zeitungen, in der Schule ist viel vom Kalten Krieg die Rede, von einem wütenden Nikita Chruschtschow in Moskau und einem grässlichen „Spitzbart“ Walter Ulbricht im Ost-Berliner Pankow, die dem Westen der Stadt an den Kragen wollen. Es fahren viele Umzugswagen durch die Stadt. Für das Kind besonders schlimm: Die Familie des besten Freundes zieht nach Bayern, aus Angst vor den Russen.

Andererseits: Es wird so viel Zukunft gebaut in der Stadt. Am Bayerischen Platz, zwischen Gedächtniskirche und Zoo – vor allem aber im Hansaviertel für die Interbau, deren kantiges Logo überall auf Litfaßsäulen zu sehen ist. Die Eltern machen Ausflüge dorthin. „Warum wird gerade hier gebaut?“, fragt das Kind. Der Krieg, heißt es, habe gerade im alten Hansaviertel keinen Stein auf dem anderen gelassen, wie auch der Tiergarten abgeholzt worden sei. Das Hansaviertel biete viel Platz für frei stehende Häuser und für Grünflächen. Das sei in einer Mietskasernenstadt mit normalerweise dunklen Höfen etwas Besonderes.

Berliner Kinder bekommen in dieser Zeit eine Agfa Click oder Clack geschenkt, um das Fotografieren zu lernen. Motiv: das Hansaviertel. Ein Höhepunkt vieler Ausflüge ist die Fahrt mit dem Sessellift vom Zoo bis Bellevue – über die Straße des 17. Juni hinweg über die riesige Baustelle. Ein Riesenspaß ist allein schon der Lift, den – was damals keiner mitbekommt – die Allgäuer Bergbahngesellschaft betreibt. Für Kinder ist das wie eine Fahrt über einen riesigen Buddelkasten. Jeder Bauklotz unten ist ein anderes Land, in das die Berliner einziehen können. In der Schule fragen sie: Bist du schon Sessellift gefahren? Zu Hause wird noch Jahre später mit viel zu wenigen Legosteinen, aber mit viel Liebe, Hansaviertel-Architekt gespielt.

In den Zeitungen steht, das Viertel sei die Antwort West-Berlins auf die hässlichen Bauten an der Ost-Berliner Stalinallee, auf deren „Zuckerbäckerstil“. Dagegen das Hansaviertel: Die berühmtesten Architekten der Welt sind beteiligt. Alvar Aalto oder Max Taut, Luciano Baldessari. Die Häuser, die sie bauen, sind bis zu 17 Stockwerke hoch, höher als das neue Wohnhaus am Roseneck. Und im neuen Viertel gibt es auch „Bungalows“, Einfamilienhäuser mit kleinem Garten, mitten in der Stadt. Die Eltern sagen, sie würden nie in so ein Haus einziehen, da könne man von oben auf sie herabsehen.

Dass der Boxer Bubi Scholz mitten im neuen Viertel eine Parfümerie eröffnet, ist Stadtgespräch. Und die Älteren erzählen von der neuen „Giraffe“, einem schicken Lokal, das im gelb getupften neuen Hansaviertel-Hochhaus nahe der Straße des 17. Juni entstanden ist.

Mit den Jahren wächst das Grün des Tiergartens an das Viertel heran, wird höher, die Häuser wirken kleiner. Die 1200 Wohnungen verlieren den Reiz des Neuen. Grips-Theater und Akademie der Künste halten das Viertel im Gespräch. Für den Außenstehenden bleibt es vor allem eine Kindheitserinnerung. Als 30 Jahre nach der Interbau die Kreuzberger Internationale Bauausstellung IBA eröffnet, wird das Hansaviertel nicht öffentlich gewürdigt. Dabei ist es noch immer eine begehrte Lage, und die Häuser sehen allesamt eindrucksvoller aus als die der IBA. Von Streit über die Umwandlung in Eigentumswohnungen ist in den achtziger Jahren die Rede, von starren Auflagen des Denkmalschutzes, vom Verharren des Viertels in den fünfziger Jahren, einem Quartier von fast rührender Altertümlichkeit.

Heute ist das Hansaviertel wieder angesagt. Die Leute sagen, es sei etwas Besonderes, hier zu wohnen. Junge Akademiker ziehen gern zu, mit den Älteren gibt es eine gute Nachbarschaft. Der Passant schlendert durch die stillen Straßen, am Oscar-Niemeyer-Haus mit seinen v-förmigen Stelzen vorbei und freut sich, dass das Haus gut in Schuss ist und der Architekt noch lebt. Auch die „Giraffe“ ist noch da.

Der Spaziergang führt an einer der Waschküchen vorbei. Eine 86-jährige Anwohnerin erzählt, dass damals keine Waschmaschinen in der Wohnung stehen durften, wegen drohender Feuchtigkeit. Viele wohnten hier seit der „Gründerzeit“. Sie selbst zahle ein günstige Miete und werde freiwillig nie ausziehen. Er kommt an der Apotheke vorbei, deren Besitzer zum Bürgerverein gehört, der sich seit 2004 für das Viertel engagiert. Das Viertel müsse seine ursprüngliche Ausstrahlung wiedergewinnen, sagt der Apotheker. Aus aller Welt kämen Architekturinteressierte, aber an den Häusern gebe es noch nicht einmal Informationstafeln. Auch öffentliche Toiletten fehlten. Das Einkaufszentrum müsse saniert werden. Der Verein hat am Hansaplatz einen Informationsraum eingerichtet, zeigt im Bahnhof alte Fotos, dokumentiert Aussagen von Zeitzeugen. Da gibt es Kritik am Denkmalschutz, aber auch sehr viel Lob. Das Viertel „ist ein kleines Dorf. Man trifft sich im Supermarkt und in der Kirche“.

Und man kann ein Stück Kindheit wiederfinden. Feststellen, dass die Liebe zu den Häusern bis heute gehalten hat. Auch das macht den Reiz des Hansaviertels aus.

Christian van Lessen

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