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Berlin: Hartmuth Horstkotte (Geb. 1931)

Er legt das Recht aus, das er selbst geschrieben hat. Mund und Gesetz, alles eins

Strafe muss sein, weiß der Volksmund. Politiker und Philosophen haben sich den Kopf darüber zerbrochen, ob das Volk irrt. Doch der Volksmund diktiert Gesetze, fällt Urteile. Er richtet. „La bouche, qui prononce les paroles de la loi“, das ist der Gedanke hinter der Justiz, wie ihn der französische Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu im 18. Jahrhundert niederschrieb. Der Richter ist der Mund, der das Gesetz zum Reden bringt.

Wäre damit alles gesagt, hätte Hartmuth Horstkotte, der Richter, ein einfacheres Leben gehabt. Aber er wuchs auf in einer Zeit, in der die Münder der Gesetze eine Rechtsordnung pervertierten, nicht im Namen des Volkes, sondern des Führers. Todesurteile als Massengeschäft. Gegen Kriminelle und Oppositionelle, Fahnenflüchtige und Landesverräter. Strafe muss sein. Wirklich?

Ein Hamburger. Horstkotte geht auf ein humanistisches Gymnasium, die Gelehrtenschule des Johanneums, die auch Walter Jens besucht hat und die Ralph Giordano wegen der Rassengesetze verlassen musste. Latein und Griechisch, die antike Welt. Aufklärung. All das, was Europa zusammenhalten soll.

Eine weitere Prägung: sein irdisch orientiertes Christentum. Horstkotte glaubt daran, dass Recht gerecht sein muss, und er ist überzeugt, dass der Herrgott dem Menschen Gerechtigkeit nicht erst im Himmel widerfahren lässt. Dass Gerechtigkeit Arbeit ist, die diesseits verrichtet werden muss.

So wird er Richter. Der Mund des Gesetzes zu sein, ist das eine, nur: Wie gerecht ist das Gesetz? Vor allem jenes, das er tagtäglich anzuwenden hat, das Strafgesetz?

Strafe: „Herkunft unklar“, vermerkt das etymologische Wörterbuch. Das trifft es. Es gab die Fehde, die Buße. Ahndung von Missetaten war Privatsache. Erst im 13. Jahrhundert tauchte in unseren Breiten die Strafe auf. Ein frühes Zeugnis ist der Sachsenspiegel, zugleich eines der ersten deutschen Prosawerke. „Den Diep sal man hengen.“ Recht ohne Gnade. Justiz ohne Seele. Kaum war die Strafe da, verlor sie das Maß. Verurteilte wurden ertränkt, verbrannt, geköpft. Das Gewaltmonopol wurde in Blut und Feuer geboren. Vielleicht war es der Umbruch, als das Landvolk in die Städte zog, vielleicht war es ein erster Missbrauch des Strafrechts als Herrschaftsinstrument.

Jedes Wort muss falsch sein, wenn der Mund des Gesetzes die falschen Gesetze verkündet. Horstkotte, der Landgerichtsrat, geht dorthin, wo Gesetze formuliert werden: ins Bundesjustizministerium. Er wird Ministerialrat und Leiter der Strafrechtsabteilung.

Ende der sechziger Jahre, Deutschland verändert sich, ein Generationswechsel. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis, so hat es der Richter gelernt. Wir verändern uns mit. Kann heute Unrecht sein, was früher Recht war? Mit diesem Argument zogen viele Nazi-Richter ihren Kopf aus der Schlinge. Horstkotte steht vor einem anderen Problem: Kann Recht bleiben, was heute wie Unrecht wirkt?

Das Gesetzbuch stammt von 1871. Vorschriften sanktionieren moralische Verstöße: Ehebruch, Kuppelei, Unzucht zwischen Männern. Die Reform ist überfällig; Strafe soll es nur noch geben, wenn Rechtsgüter betroffen sind, Leib, Leben, Gesundheit oder Eigentum.

Der Richter schreibt Gesetze, leistet die Vorarbeiten für liberale Reformen im Demonstrationsstrafrecht, Sexualstrafrecht, Abtreibungsrecht. Er überzeugt Abgeordnete des Bundestages von der epochalen Reform.

Es geht gerade auch um die „Rechtsfolgen der Tat“, wie die Strafe im Gesetzbuch heißt. Einschluss-, Zuchthaus- oder Arbeitsstrafen werden zur „Freiheitsstrafe“ zusammengeführt, neben die zunehmend gleichrangig die „Geldstrafe“ tritt. Zugleich werden die Möglichkeiten der Bewährung ausgebaut. Strafe muss nicht sein – jedenfalls dann nicht, wenn es genügt, sie unmittelbar anzudrohen.

Als Horstkotte wieder Richter wird, Mitte der Siebziger, ist das Strafsystem umgekrempelt. Er wird an den Bundesgerichtshof berufen, gelangt in den Fünften Strafsenat in Berlin. Nach der Wiedervereinigung hat er dort mit den Mauerschützenprozessen und mit Verfahren wegen Rechtsbeugung der DDR-Justiz zu tun. Horstkotte legt das Recht aus, das er selbst geschrieben hat. Mund und Gesetz, alles eins. Als Kommentarautor richtet er das Wort auch an die Fachwelt.

Er hat Einfluss und Macht, würde davon aber selbst nicht sprechen. Es geht ihm um eine Annäherung an Gerechtigkeit in Fleiß und Demut.

Die „Rechtsfolgen der Tat“ bleiben auch nach der Reform oft unabsehbar. Die Richter haben gewaltige Spielräume. Wann geben sie für einen bewaffneten Raub zwei, wann sieben Jahre? Dürfen Totschläger mit einer Bewährungsstrafe davonkommen? Horstkotte tut, was er kann, gegen die Beliebigkeit: Er klärt Jurastudenten auf, unermüdlich, uneitel – und manchmal nur vor einer Handvoll Interessierter. Denn was Strafe wirklich heißt, spielt im Examen keine Rolle. Es soll Strafrichter geben, die noch nie ein Gefängnis von innen gesehen haben. Zeit, die Horstkotte nicht für Beruf und Studenten aufbringt, widmet er der Gefangenenseelsorge in seinem Verein „Kirche im Gefängnis“.

Ein Cellospiel, ein paar Bibelworte aus der Übersetzung von Walter Jens. Der Pastor spricht von einem, der aus dem Glauben an Menschlichkeit und Würde handelte. Die Todesanzeigen verabschieden ihn ohne Titel. Da ist er kein Professor, Bundesrichter a. D. Im Himmel, heißt es, sei mehr Freude über einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte. Bei diesem Gerechten könnte es eine Ausnahme geben.

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