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Bäckerei für Integration.

© Kitty Kleist-Heinrich

„Heimaterde“: Wo Wedding und Ankara verschmelzen

Yasemins Bäckerei ist das heimliche Zentrum des Wedding und auch ein Spiegelbild seiner verschiedenen Kulturen und ihrer Kämpfe. Ein Auszug aus dem Buch "Heimaterde".

Vor dem Haus, auf dem kleinen Platz, den Pflastersteinen, aus denen Bäume wachsen, die den Himmel aufzuspannen scheinen, begegnen sich die Menschen immer nur kurz. Am Müllplatz, auf dem Weg zum Briefkasten, zum Einkaufen. Hier hasten sie aneinander vorbei, dem Tag hinterher.

In der Bäckerei aber, die genau gegenüberliegt und nachts leuchtet wie eine dieser Tankstellen in der Wüste, sicher vom Weltraum aus noch zu sehen, verweilen sie, setzen sich dazu, setzen sich einander aus. An Tischen, an denen immer genug Platz ist für alle. Und wenn noch einer kommt, dann rücken sie halt enger zusammen. Ich überquere die Straße, sehe schon von Weitem die Gesichter, die hier unbedingt dazugehören. Manchmal sind gleich alle da, dann ist es ein grandioses Durcheinander. Manchmal ist es so still, als wären sie über Nacht verschwunden, Vögel, die den deutschen Winter nicht mehr aushalten konnten, zurück in Richtung Süden gezogen.

Der Abend gehört den Männern, die dann Backgammon spielen

Einer sitzt dort, die dunklen Haarspitzen mit Gel gebändigt, arabischer Autoverkäufer, eine Narbe vom Ohr bis zum Scheitel, wartet und starrt, bis sein Handy klingelt und er sich meldet: Bäckerei für Integration, guten Tag. Riesiges Grinsen. Er hat abgeliefert und erntet einen Raum voll Gelächter. Dann wechselt er die Sprache, den Ton. So ist das doch im Wedding.

Die Männer trinken Chai, den Tee, so schwarz wie ihr Humor. Das Glas zu 1,20 Euro.

© Kitty Kleist-Heinrich

Nach und nach kommen die anderen, immer versetzt, nie alle zur selben Zeit. Der Abend hier gehört den Männern, die dann Tavla spielen, Backgammon. Und es mit jedem neuen Zug besser wissen als am Tage zuvor. Ihre eigenen Nachrichtensprecher, immer auf Sendung. Drinnen hängen die Zeitungen. „Bild“, „BZ“, „Hürriyet“. Ihre Schlagzeilen in traurigem Schwarz, in schreiendem Rot, sie passen zur türkischen Seele. Melancholie und Wut, immer nah beieinander. Und darunter dann, unter den Schlagzeilen, sitzen die Männer und erklären sich die Welt, mal abwechselnd, meist jedoch alle gleichzeitig. Sprechen vor allem mit den Händen. Trinken Chai, den Tee, so schwarz wie ihr Humor. Das Glas zu 1,20 Euro.

Der Morgen gehört den Frauen, die ihre Kinder in die Schule bringen

Der Morgen aber gehört den Frauen. Frauen, die ihre Kinder in den Kindergarten und in die Schule gebracht haben und nun die erste Zigarette des Tages aus der Schachtel klopfen, aus den Mündern der anderen die Neuigkeiten des Viertels. Sie tauschen hier ihre Träume und wenn einer platzt, wischt Yasemin die Tränen vom Tisch.

Lucas Vogelsang. Als Autor schrieb er lange für den Tagesspiegel und später für Magazine. Nun arbeitet er bei der „Welt am Sonntag“.

© Thilo Rückeis

Sie ist eigentlich immer da, sitzt mit den Männern und mit den Frauen, sie macht da keinen Unterschied. Und wenn sich einer daran stößt, dann kann er mal eben woanders hingehen. Die Bäckerei, sie gehört ihr. Und zur Begrüßung reicht sie Selbstgebackenes wie ein Lächeln über ihre Theke aus Glas. Steht dort, macht Chai für die Männer und den Frauen über die Schulter Komplimente.

Yasemin, die Männer nennen sie Schwester. Abla. Die Söhne nennen sie Tante. Teyze. Ich nenne sie Yasemin. Von ihr habe ich gelernt, was es bedeutet, im Block dazuzugehören. Sie hat mir das erklärt, das Wort beigebracht, das auch ich seitdem bei mir trage. Sie hat es mir in mein Notizbuch geschrieben, in geschwungener Schrift. Mahalle. Es ist ihr ein wichtiges Wort, man braucht nicht viel mehr. Es bedeutet Gegend, Viertel, es beschreibt diese Ecke. Mahalle, sagt Yasemin, bedeutet, man kümmert sich, man passt auf. Man ist einfach da für die Menschen hier. Was soll man auch machen, das sind die Menschen, die man jeden Tag sieht. Wie Spiegelbilder.

Die Bäckerei schließt niemals

Die Bäckerei ist das Herz der Gegend, der zentrale Ort. Yasemin und die anderen, die hier im Schichtdienst arbeiten, weil die Backerei niemals schließt, sie helfen den Menschen durch den Tag. Trösten jene, die Trost suchen, und andere, die keine Arbeit finden können. Oder öffnen den Alten die Post. Und wenn es Briefe sind, dann lesen sie diese Briefe laut vor, Augen für jene, die kaum noch sehen können. Die Briefe vom Amt, die einige nicht verstehen. Die Briefe der Versicherungen und der Tochter, in denen es um das Leben geht und manchmal um den Tod. Wer macht das sonst hier, keiner.

Sie aber rufen beim Arzt an und vereinbaren Termine, Yasemin ist dann Dolmetscherin. Sie gibt den Menschen aus dem Haus ihre Sprache und damit auch ihre Stimme zurück. Und die Nachbarn drücken Yasemin dafür ihre Schlüssel in die Hand, wenn sie in den Urlaub fahren, hinterlegen Pakete, hin und wieder auch Geld.

Das Buch über eine „Weltreise durch Deutschland“ ist im Aufbau-Verlag erschienen (330 Seiten, 20 Euro). Wir drucken mit freundlicher Genehmigung exklusive Auszüge.

© Kitty Kleist-Heinrich

Großes Vertrauen, sagt Yasemin. Mahalle ist aber auch, wenn du drüben bist und Heimweh bekommst. Drüben bedeutet Türkei, Urlaub. Wenn ich drüben bin, sagt Yasemin, dann möchte ich irgendwann immer nach Hause. Und zu Hause ist hier, die Familie, die Kreuzung, an der wir uns bewegen.

Zu Hause ist Berlin.

Die Menschen sprechen Türkisch, Arabisch, Deutsch

Die Leute fragen sie ja ab und an, die Frau mit den schwarzen, schweren Locken. Bist du nun Türkin oder was biste? Und sie sagt immer: Ich bin Berlinerin. Wenn du so fragst, nach der Heimat, dann ist es nicht Deutschland, dann ist es nicht die Türkei, dann ist es Berlin.

Yasemin ist Alevitin und deshalb sieht sie die Dinge ein bisschen anders. Lockerer vielleicht auch. Und wenn sie über die Regeln sprechen soll, die in ihrer Backerei gelten, dann lacht sie verlegen, zündet sich draußen eine Zigarette an und zitiert tatsächlich aus dem Grundgesetz. Artikel 3, Absatz 3. Gegen die Willkür, bei ihr ganz praktisch. Du sollst, sagt Yasemin also, den Menschen nicht nach der Rasse oder der Religion beurteilen, sondern nach dem Menschen. Es ist doch egal, ob du Jude bist oder Christ. Deutscher oder Araber. Und deshalb darf hier auch jeder sitzen, solange er zahlt und die Gläser nicht stehen lässt.

Die Menschen hier sprechen also Türkisch, Arabisch, sie sprechen Deutsch. Sie haben gelernt, sich in all diesen Sprachen zu unterhalten, meist zur gleichen Zeit. Oglum, ja klar! Mach mal langsam, Habibi. Darin liegt ihre Kunst. Versteht sich von selbst. Was einer hier weiß, wissen alle. Sie erinnern sich gemeinsam, weil sie ihre Geschichten teilen. Wir, sagen sie, sitzen alle in einem Boot.

Deuten auf das Haus, den Block.

Der Block: Arche Noah oder Titanic?

Titanic, sagen die Männer und grinsen, diebische Freude am Untergang. Arche Noah, sagen die Frauen, schütteln die Köpfe.

Von jedem etwas. Türken, Araber. Aleviten, Sunniten, Schiiten. Kartoffeln, Oglum. Schwarzköppe, Alter. Natürlich von allen mehr als zwei. Es ist ja ein großes Boot, so viele Türen. Und wenn einer reinkommt, dessen Mutter bald stirbt, Intensivstation, der die Frau hat gehen lassen und nicht mehr an der Liebe, dafür aber am Schnaps hängt, dann wissen das die Männer, und die Frauen wissen es auch. Und er darf den Stuhl heranziehen und erzählen. Nur den Schnaps, das weiß er, den trinkt er draußen.

Der Wedding, sagen die Jungs auf der Straße, ist ein Hurensohn

Wer also Gesellschaft haben möchte, ist gerade richtig hier. Und wer lieber in seinen Kaffee schweigen möchte, genauso willkommen. So ist das im Wedding, jeder nach seiner Faßong.

Der Wedding, Bezirkye, ist deshalb auch ein guter Ort, um der Heimat nachzuspüren. Und ein guter Ort für Antworten ist er ohnehin, weil der Wedding eben kein Blatt vor den Mund nimmt, in keiner Sprache. Der Wedding, sagen die Jungs auf der Straße, ist ein Hurensohn. Was dann auch gleich wieder ein Kompliment ist.

Der Wedding grenzt viel eher an Ankara. Oder an Wahnsinn.

© Kitty Kleist-Heinrich

Und so kann man ganz wunderbar vor Yasemins Bäckerei sitzen und den Menschen beim Eintreffen und Vorbeiziehen zuschauen. Es sind ja tatsächlich Menschen, die aus allen, so sagt man wohl, Himmelsrichtungen in den Wedding gekommen sind. Und die sich sehr wahrscheinlich selbst in der Türkei nie begegnet wären. Die einen aus Anatolien, Hirten aus den Bergen, die anderen von der Schwarzmeerküste, die einen aus Istanbul, die anderen aus Ankara. Und wieder andere aus den Ländern, die dahinter liegen oder darunter. So ist das im Wedding.

Auch Erdogan-Anhänger wohnen hier

An den langen Vormittagen nun, an denen der alte Wedding zwei „Kurier“ kauft, zum Stereolesen, die Mütterchen mit den geblümten Kopftüchern das noch sehr warme Fladenbrot in sehr dünnen Plastiktüten sehr langsam nach Hause tragen und die Handwerker, die ihren Kaffee schwarz mögen und das Bier hell, die gute Stulle mit Ei bestellen, steht Zehra hinter der Theke und, so sagt man doch, schmeißt hier den Laden. Ihr Mann ist Taxifahrer, sie also kennt die Straßen des Wedding, seine Macken und seine Kinder. Zehra ist Mutter, zwei Mal, sie also weiß Bescheid, hört das Tuscheln, die Gerüchte dazu. Die bösen Worte, die noch hinter verschlossenen Türen gesprochen werden.

Es sind hier an der Ecke, in der Bäckerei, die Zeiten nach dem Putsch.

Auch am Block, da muss man sich nichts vormachen, wohnen die Anhänger von Erdogan. Der Wedding, sagte mal einer hier, ist kein Königreich. Er ist ein Kalifat. Ein Witz, in dem das Schwert steckt.

Und Zehra, wie ich aus Spandau, versucht jetzt, das mal zu erklären. Das ganze Türkending, die Zerrissenheit, auch damit kennt sie sich aus. Sie ist Sunnitin.

An der Herkunft kann man gleich erkennen, wie einer ist

Weißt du, sagt sie, man fragt bei den Türken immer, woher einer kommt. Da ist es egal, ob du hier in Deutschland geboren bist. Wichtig ist, woher deine Familie stammt. Die Wurzeln, verstehst du? Wir fragen immer: Woher kommst du. Nerelisin. An der Herkunft kann man gleich erkennen, wie einer ist. Jede Stadt, sagt Zehra, hat ihren Charakter. Das ist wie ein Stempel. In Kayseri, zum Beispiel, in Kappadokien, da sind die Leute geizig, raffiniert. Die haben immer Geld. In Urfa, in der Antike Edessa, da sind sie link, verschlagen. Mit denen macht man keine Geschäfte. Und in Trabzon, Haselnussküste, da sind sie mutig. Manchmal übermütig. Die Leute tragen Waffen und würden ihre Zimmer nie an Kurden vermieten. Man kann, sagt sie, von der Abstammung gleich auf die politische Einstellung schließen. Schwarzmeer, da weiß man schon, der ist Erdogan-Fan. Das ist das türkische Texas, „dort wohnen die Faschisten“. So einfach ist das.

Und deshalb weiß man ja auch, wer hier was denkt. An der Ecke, vor der Bäckerei. Kennt die unterschiedlichen Meinungen, sieht auch den Riss, der hier nun verläuft, die neuen Mauern in den Köpfen. Auf der einen Seite die Männer mit den Fahnen im Wohnzimmer, auf der anderen Seite die Frauen, die sich um ihre Verwandtschaft sorgen. Erdogan, sagt eine Nachbarin, hasst die Aleviten. Das ist nichts Neues. Sie haben immer in Angst gelebt. Jetzt tun sie es wieder. Es gibt in der Türkei Muslime, die nehmen kein Wasser von uns, kein Brot. Nennen uns unrein.

Der Wedding grenzt ja viel eher an Ankara

Der Block aber hält das aus, die Mahalle verkraftet das. Die verschiedenen Ansichten, den unterschiedlichen Glauben. Sunnit, Alevit, Christ, sagt Zehra, das ist am Ende egal. Wie einer ist, hängt doch immer von der Erziehung ab, von der Bildung. Guck mal, sagt sie, Yasemin ist Alevitin, ich bin Sunnitin. Sie ist aus Tunceli, ich bin vom Schwarzen Meer. Aber wir sind gleich aufgewachsen, gleiche Werte, gleiche Regeln. Der Glaube, hat mein Vater immer gesagt, ist im Herzen. Also, Mädchen trag deine Röcke, trag deine Kleider. Und an meinem Geburtstag trinkst du auf mich. Er war, sagt Zehra, sehr modern. Seiner Zeit voraus.

Der Wedding, keine neue Mitte, ist da eher ein bisschen hintendran, grenzt ja viel eher an Ankara. Oder an Wahnsinn. Der Wedding kommt nicht. Und damit muss man auch erst mal klarkommen.

Nun, kurze Zigarettenpause, stehen die Frauen vor der Bäckerei und schauen ein bisschen in die Gegend hinein. Vorhin war noch einer der Männer da, ein Nachbar, sie kennen sich gut. Sie sprechen jeden Tag miteinander und schweigen, wenn es laut werden könnte. Natürlich war Erdogan ein Thema, und der Nachbar war wütend. Seine Gestik angefüllt mit den Bildern aus dem Fernsehen. Er fuchtelte sie in den Zigarettendunst vor der Bäckerei, tanzte den Erdogan, machte seine Zeichen. Die Frauen, sie schauten ihm zu, warteten ab.

Ich, sagt Yasemin nun, kann ihn nicht belehren und nicht überzeugen. Was soll's? Am Ende reden wir über die Kinder und lachen zusammen. Das haben wir immer schon immer so gemacht. Das ist Mahalle, das ist ein demokratisches Land.

Yasemin drückt ihre Zigarette in den Aschenbecher und geht hinein, Kundschaft. Frauen mit Kopftuch, die Brot von ihr kaufen und Wasser. Sie fragen, wie es ihr geht.

Alles wie immer.

Vogelsang entdeckt das Besondere im Natürlichen.

© Kitty Kleist-Heinrich

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