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Kirsten Heisig, die verstorbene Jugendrichterin, führte das Neuköllner Modell ein.

© ddp

Spurensuche: "Heisig hat im Gegensatz zu Sarrazin etwas getan"

Vor acht Wochen starb Kirsten Heisig. Die Berliner Jugendrichterin fehlt – nicht nur in Neukölln. Aber die Menschen, die ihr Engagement teilen, machen weiter. Eine Bestandsaufnahme.

Von Sandra Dassler

Mittwochnachmittag, Schillerpromenade, Nordneukölln:

Diesmal haben die Kiezbewohner aufgepasst. Als ein Streit zwischen der 50-jährigen Passantin und der Gruppe Neun- bis Zwölfjähriger eskaliert, kommen sie herbeigerannt: Willy vom Dartclub, ein Mitarbeiter des Quartiersmanagements und viele andere – die Kinder flüchten.

„Wir haben erreicht, dass Leute nicht mehr wegschauen“, sagt Kerstin Schmiedeknecht: „Sie wissen auch, wo sie Hilfe erhalten.“ Schmiedeknecht leitet das Quartiersmanagement Schillerpromenade. Der Kiez ist schwierig. Von rund 20 000 Einwohnern sind etwa 65 Prozent Einwanderer: Türken, Araber, Ex-Jugoslawen, Polen, Afrikaner. 1998, als Schmiedeknecht hier anfing, merkte sie, dass traditionelle Stadterneuerung sinnlos war. „Nur durch Quartiersmanagement kamen wir an die Menschen heran“, sagt sie. Die Stadtteilmütter waren ihre Idee, auch die Task Force Okerstraße. Denn abgesehen von Kriminellen, Alkoholikern und Dealern – die Hasenheide ist nicht weit – gibt es seit einigen Jahren auch Probleme mit kurz- oder längerfristig hier lebenden Roma.

„Die Task Force vernetzt alle Behörden und Einrichtungen, die mit Menschen zu tun haben“, erklärt Schmiedeknecht. So erfahre man schneller, wenn Romakinder nicht zur Schule gingen oder 20 Personen in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung hausten und dafür 200 Euro Miete pro Person zahlen müssten.

Kirsten Heisig hat die Task Force in ihrem Buch als beispielgebend bezeichnet, ihr Tod geht Schmiedeknecht nah. „Kirsten hat eben nicht nur ihren Bereich gesehen“, sagt sie: „Und sie hat im Gegensatz zu Thilo Sarrazin auch etwas getan. Für mich ist das ein Auftrag: wir müssen weitermachen, damit aus den Brennpunkten keine Flammenherde werden. In einigen Quartieren ist es schon fünf nach zwölf.“

Mittwochabend, Amtsgericht Tiergarten:

Das größte Amtsgericht Deutschlands empfängt Besucher mit einer gewaltigen Eingangshalle. „Die Erbauer wollten damit die Übermacht der Justiz symbolisieren“, sagt Stephan Kuperion. Sein Lachen klingt nicht fröhlich: „Heute ist man eher versucht, von Ohnmacht der Justiz zu sprechen.“ Stephan Kuperion ist Jugendrichter, liebt seinen Beruf nach wie vor.

Aber er hatte wie Kirsten Heisig in den vergangenen Jahren immer öfter das Gefühl, dass er zu spät kam. Denn Jugendrichter sollen nicht strafen, sondern erziehen, den Anfängen wehren. Doch die Jugendlichen, die da vor ihnen standen, hatten meist mehrjährige kriminelle Karrieren hinter sich. Und oft hat es Monate oder gar Jahre bis zur Anklage gedauert. „In dieser Zeit mussten sie ja denken, dass nichts passiert, dass sie weitermachen können“, sagt Kuperion. Deshalb habe ihn das Neuköllner Modell, das Heisig mit Oberstaatsanwalt Rudolf Hausmann entwickelt hat, sofort überzeugt.

Ziel des seit Juni berlinweit angewandten Modells ist die Verfahrensverkürzung nach einer Tat, die mit maximal vier Wochen Dauerarrest geahndet wird. Die Verhandlung sollte innerhalb von vier Wochen nach der Tat stattfinden. „Die Möglichkeit der beschleunigten Verfahren bestand im Rahmen des vereinfachten Jugendverfahrens schon immer“, sagt Kuperion: „Sie wurde aber nicht so konsequent genutzt wie im Neuköllner Modell.“

Stephan Kuperion sitzt im 6. Stock des Amtsgerichts, Kirsten Heisig saß zwei Stockwerke tiefer. Die Bestürzung über ihren Tod kann Kuperion nicht verbergen: „Man muss das Private vom Dienstlichen trennen“, sagt er tapfer: Das Dienstliche wenigstens, das gesellschaftlich Wichtige, bleibe. Das Neuköllner Modell sei bei den meisten der mehr als 40 Berliner Jugendrichter anerkannt und werde aus anderen Ländern nachgefragt.

Fast noch wichtiger ist für Kuperion, dass Heisig mit der Tabuisierung vieler Themen Schluss gemacht habe: „Dass wir über Jugendgewalt reden, über Brutalisierung, über Menschen, die sich nicht integrieren können oder wollen, und zwar immer mit dem Ziel, ihnen zu helfen – das lässt sich nicht zurückdrehen.“

Donnerstagmittag, Hermannstraße, Nordneukölln:

Thomas Weylandt reicht dem Mann, der ihn auf der Straße per Zettel um Geld für seine sechs vom Hochwasser bedrohten Kinder anbettelt, eine Zigarette. „Hochwasser in Neukölln“, sagt er kopfschüttelnd. Weylandt leitet die Jugendgerichtshilfe im Kindl-Boulevard, nebenan ist das Jobcenter. Hier herrscht Gedränge: Junge Frauen schieben Kinderwagen, Männer fluchen, Sicherheitskräfte bauen sich in Fluren auf. Neukölln hat eine Arbeitslosenquote von 21 Prozent, hier leben Menschen aus mehr als 160 Nationen.

Weylandt hat das Neuköllner Modell mit Kirsten Heisig umgesetzt. „Es gibt Jugendliche, denen sind noch nie Grenzen gesetzt worden“, sagt er. Und erzählt von einem Jungen, bei dem keine erzieherische Maßnahme fruchtete und der im Gefängnis landete. Als Weylandt ihn dort besuchte und mit ihm über seinen jüngeren Bruder sprach, der ebenfalls in die Kriminalität abzurutschen drohte, sagte der Junge: „Bitte stecken Sie ihn gleich ins Gefängnis, nur dadurch wird er sich ändern.“

Kirsten Heisigs These, wonach Jugendamtsmitarbeiter Angst vor kriminellen Familien hätten, widerspricht Weylandt: „Wir sind vorsichtig, aber das hat nichts mit Angst oder Wegschauen zu tun.“ Für problematisch hält Weylandt genau wie Heisig, dass Informationsaustausch oft durch Datenschutz erschwert wird: „Kinderschutz muss vor Datenschutz gehen“, sagt er: „Da ist die Politik gefordert.“

Donnerstagnachmittag, Maybachufer, Nordneukölln:

Öczan Kilic (48) hat sich getraut: Als Jugendstadträtin und Baustadtrat die offiziellen Reden zur Eröffnung des Spielplatzes beenden, ergreift er das Wort. „Bitte sorgen Sie dafür, dass hier öfter mal Polizei oder das Ordnungsamt vorbeikommt“, sagt er: „Sonst wird der Spielplatz nicht lange schön bleiben.“ Malermeister Kilic wohnt hier seit 30 Jahren: „Schon meine drei Kinder sind mit Drogensüchtigen aufgewachsen“, sagt er: „Aber meinen vier Enkeln soll es besser gehen. Die Junkies verstecken Spritzen und Bestecke im Sandkasten.“

Auch Mesut Aktas fürchtet um die Zukunft des Spielplatzes, aber mehr noch um „seine“ Kinder. Der 23-Jährige hat Maschinenbau studiert und im Nebenjob Kinder im Jugendclub „Manege“ betreut. Weil ihm das gefiel, ist er Erzieher geworden. Er weiß, was seine Schützlinge brauchen: „Bildung, Bildung, Bildung“, sagt er: „Was glauben Sie, wie manche Kinder staunen, wenn ich ihnen etwas über das Planetensystem erzähle. Aber viele Familien schaffen das nicht aus eigener Kraft.“

Heisig hat vorgeschlagen, dass Behörden einen Punktekatalog aufstellen, der Lebensumstände der Kinder erfasst und wie bei einer Ampel je nach Gefährdung mit Grün, Gelb oder Rot bewertet.

„Alles richtig“, findet Neuköllns Jugendstadträtin Gabriele Vonnekold (Grüne): „Doch es geht nicht um ein Erkenntnisproblem. Wir wissen, was nottut, doch die Mittel fehlen. Wir rennen den Fällen hinterher, bei mir betreut jeder Sozialarbeiter hundert Familien.“ Sie sei dankbar, dass sie in ihrer vierjährigen Amtszeit nicht über ein verhungertes oder erschlagenes Kind berichten musste, sagt Vonnekold. Sie teile Heisigs Ansicht, dass man Schulen sowie Gesundheits- und Jugendämter stärken müsse, statt Sonderprogramme aufzulegen.

Freitagvormittag, Okerstraße, Nordneukölln:

Monika B. sitzt im Büro der Task Force Okerstraße und bittet um Hilfe: Ihr jüngster Sohn soll, so will es das Amt, zur Schule gehen. „Das ist unmöglich“, sagt Murat Acar. Der Kurde leitet das Projekt Integra, zu dem neben Beratung auch Streetwork und Betreuung der Romakinder gehört. Acar kennt den Jungen, der in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist. Und beruhigt die Mutter. Man werde das Gesundheitsamt und das Schulamt verständigen. Da beide in der Task Force Okerstraße sind, sei das kein Problem.

Freitagnachmittag, Böhmische Straße, Nordneukölln:

Tarkan L. schenkt den älteren Männern Tee ein. Im Frühjahr hat ihn eine Richterin wegen Körperverletzung verurteilt. Er hatte ein Jahr zuvor einem Mann ins Gesicht geschlagen. „Aber ich hatte mich geändert“, sagt der 22-jährige Deutschtürke: „Ich hatte über vieles nachgedacht – auch weil ich bei der Bundeswehr war, Rassismus erlebte, und jetzt etwas dagegen tun will. Die Richterin hat das gemerkt und ein mildes Urteil gefällt.“

Dass diese Richterin Kirsten Heisig war, hat Tarkan L. erst gemerkt, als er bei der Trauerfeier ihr Bild sah. Dorthin hatte ihn der Psychologe Kazim Erdogan mitgenommen, der türkische und arabische Eltern betreut. „Hier schauen Sie, überall steht Kirsten Heisig“, sagt Kazim Erdogan und zeigt sein Notizbuch mit den seit langem vereinbarten Terminen für Elternversammlungen in den nächsten Wochen: „Sie ist nach harten Arbeitstagen zu uns gekommen. Sie hat den Eltern gesagt, dass ihre Kinder kriminell werden, wenn sie nicht aufpassen. Hat ihnen gesagt, wie wichtig die deutsche Sprache ist.“

Kazim Erdogan schluckt: „Sie ist zu den Menschen gegangen und wusste, über was sie redete und schrieb. Das ist der große Unterschied zu Sarrazin.“

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