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Berlin: Henry Woldt (Geb. 1961)

Um bei Hertha aufgenommen zu werden, reicht das Geld nicht.

Henry und Martina heben die Koffer auf das Förderband, reichen der Stewardess die Flugscheine, laufen durch den engen Verbindungsgang hinein ins Flugzeug, fallen lachend und erschöpft in die Sitze. Die Maschine rast über die nasse Rollbahn, hebt ab. „Endlich!“, sagt Henry. Urlaub. Zwei Wochen Zypern. Sonne, Strand, Meer.

Henry und Martina stellen die Koffer im Hotelzimmer ab, laufen los. Setzen sich vor ein Café. Die Kellnerin bringt die Getränke. „Henry“, sagt Martina gereizt, „du hörst mir gar nicht zu.“ Sie folgt seinem Blick, schaut in das junge gebräunte Gesicht der Kellnerin. Brigitte.

Henry und Martina sitzen im Flugzeug, Henry starrt aus dem Fenster, Martina auf den Hinterkopf des Passagiers vor ihr. In Berlin nimmt jeder ein eigenes Taxi. Henry gibt seine Wohnung auf, den Job, fliegt zurück nach Zypern, für ein halbes Jahr, zu Brigitte.

Henry hilft Brigitte im Café, badet im Meer, liegt am Strand, hält das blasse Gesicht in die Sonne. „Meine glücklichste Zeit“, wird er später sagen. Und die tödliche. Jahre später hört Henry von einem Arzt das Wort: Hautkrebs.

Henry kommt 1961 zur Welt. Der Vater und die Mutter des Vaters, deren Mann gerade gestorben ist, entscheiden, das Kind soll bei der Großmutter leben. Henrys Mutter lässt es geschehen. Sie läuft die Straße der Schwiegermutter entlang, immer wieder, sieht irgendwann den Sohn hinterm Fenster, winkt unsicher, bis das Kind im Dunkel wieder verschwindet.

Henry liebt seine Oma. Er ist Enkel, Sohn, Einzelkind. Auch wenn es inzwischen zwei Schwestern gibt, Petra und Beate, die bei den Eltern leben. Nach fünf Jahren läuft Henrys Mutter zur Schwiegermutter, holt den Sohn, lässt sich von ihrem Mann scheiden. Sie zieht in die Graunstraße, Wedding, vierte Etage. Die Nachbarn beschweren sich, zu laut sei das Spiel der Kinder. Henrys Mutter wechselt in eine Wohnung im Erdgeschoß: undichte Fenster, Kohleofen, eine Toilette, ein Waschbecken für mehrere Mieter.

Henrys Zensuren sind schlecht, stets schlechter als die der Schwestern. Doch der Vater, wenn er da ist, lobt einzig ihn, unaufhörlich. Die Schwestern stehen schweigend bei der Mutter.

Henry spielt Fußball, auf der Straße, in Hinterhöfen. Um bei Hertha aufgenommen zu werden, reicht das Geld nicht. 1974 muss Hertha den Sportplatz am Gesundbrunnen zumachen. Plattenbauten entstehen auf der Fläche. Henrys Mutter bekommt eine der neuen Wohnungen: Zentralheizung, ein Bad, zwei Toiletten.

Mit 17 beginnt Henry eine Lehre zum Bürogehilfen. Er sitzt an seinem Schreibtisch, der Chef beugt sich über ihn, raunt in sein Ohr: „Entweder du gehst mit mir ins Bett oder du verlierst deine Stelle.“ Henry trinkt, rennt atemlos durch die Straßen, schließt sich in seinem Zimmer ein, wird krank. Sein Vater meldet sich kaum noch.

Henry nimmt eine Stelle auf dem Bau an, macht eine Ausbildung zum Maurer. Holt den Realschulabschluss nach, lernt Altenpfleger. Er wird Mitglied bei Hertha. Läuft den Berlin-Marathon. Trinkt fast nur noch Milch.

Kurz vor seinem 40. Geburtstag sagt der Arzt das Wort: Hautkrebs. Der Vater reist durch die Welt, bringt ihm einmal ein Porträt, das ein Maler von ihm auf dem Montmartre gezeichnet hat, mit, reist weiter. Henry hängt das Bild des Vaters im Wohnzimmer auf.

Die Schwestern, drei nun, Petra, Beate, Simone, sind da für Henry, im letzten Jahr Tag und Nacht. So, wie er da war für sie, wenn die eine traurig, die andere allein, die dritte ratlos war, der große Bruder. Nach Familienfesten verabschieden sie sich immer auf dieselbe Weise, sie sagen: „Glück, Gesundheit, innere Zufriedenheit.“ Henry spricht die Schwestern mit „Schwesterherz“ an. Auf seinen Grabstein schreiben sie „Bruderherz“. Tatjana Wulfert

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