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Allein gelassen. Hinter dieser Wohnungstür in Prenzlauer Berg lebten vier Geschwister ein Dreivierteljahr allein, der älteste Bruder war zwölf Jahre alt. Die Mutter war zu ihrem Freund gezogen. Das Schicksal der Kinder schockierte im Jahr 2007 die Öffentlichkeit. Ein Gericht verurteilte die Mutter später zu 21 Monaten Haft auf Bewährung.

© dpa

Familienhilfe: Hilfe zur Selbstbedienung

Das Geschäft mit der Not von Kindern und Familien blüht. Es fehlt an Kontrollen, sagen Politiker. Sie fordern Reformen.

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Mehr als 400 Millionen Euro gibt Berlin jährlich für die „Hilfen zur Erziehung“ für Kinder aus. Davon profitieren über 780 Träger. Die Branche wächst rasant – und mit ihr der Ruf nach mehr Kontrolle. Denn belohnt werden, wie der Tagesspiegel berichtete, nicht die Träger, die ihren Klienten helfen, möglichst schnell ihr Leben aus eigener Kraft zu bestreiten. Oft reiht sich deshalb eine Unterstützungsphase an die andere. Der CDU-Haushaltsexperte Uwe Goetze fordert: „Das ganze System muss unter einen gewissen Erfolgsdruck gesetzt werden.“ Es seien zwar hoch qualifizierte Sozialarbeiter in der Familienhilfe tätig, aber eine „Supervision von außen“ sei dringend erforderlich, um die Kosten zu bremsen.

Welche absurden Entwicklungen das System zuweilen hervorbringt, zeigt der „Integrationszuschlag“ bei Kitas. Die Einrichtungen bekommen eine halbe Pädagogen-Stelle zusätzlich, wenn sie ein schwerstbehindertes Kind aufnehmen. In Treptow-Köpenick kam es zu einem Anstieg der schwerbehinderten Kinder um 240 Prozent innerhalb von drei Jahren. „Es kann mir keiner erzählen, dass es so viele neue Fälle gibt“, sagt Oliver Schruoffenegger. „Falsche Steuerungsstrukturen“ diagnostizieren die Grünen und wollen diesen mit einer Reform beikommen, die beispielsweise ein festes Budget für die Einzelfallhilfen vorsieht. „Dann gibt es keinen Anreiz mehr zur Mengenausweitung“, sagt Schruoffenegger. Zudem müsse die Vielfachbetreuung von Klienten gestoppt werden. Ein Kind mit Betreuungsbedarf werde beim Schuleintritt manchmal von vier Personen betreut: dem Schulhelfer, Einzelfall- und Familienhelfer sowie vom Logopäden.

Mieke Senftleben, Sprecherin für Soziales bei der FDP, spricht von einem „langjährigen Versäumnis des Senats“. Gegenwärtig kontrollierten sich die freien Träger selber: Ein Träger beurteile die Hilfebedürftigkeit der Klienten eines anderen. Dass „eine Hand die andere wäscht“, so Senftleben, dürfe nicht länger geduldet werden. Mehr „präventive“ Maßnahmen seien ferner nötig, die etwa in „Familienzentren“ geleistet werden könnten.

Mit der frühzeitigen Betreuung hilfebedürftiger Familien hat man im Kinderschutz-Zentrum gute Erfahrungen gemacht: Dort werden Gruppen mit jungen, selbst früher misshandelten Eltern begleitet, die ein Baby bekommen haben. Sie lernten voneinander und von dem Betreuer. Doch für Projekte wie dieses gebe es nur wenig Geld. Vorstand Elisabeth-Charlotte Knoller nennt dennoch die Darstellung, wonach die Familienhilfe ohne Kontrolle wachsende Haushaltmittel verschlinge, einseitig: „Es gibt regelmäßige Qualitätsdialoge durch die Amtsleitungen in den Bezirken, und wenn eine Hilfe länger als sechs Monate läuft, wird sie immer hinterfragt.“ Auch externes Fachcontrolling gebe es in den Bezirken: in Neukölln durch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes Duisburg. Zudem gebe es einen „ganz erhöhten Kostendruck in den Bezirken“, weil andere Ressorts die wachsenden Kosten im sozialen Bereich nicht kritiklos hinnehmen.

Für die „Hilfen zur Erziehung“ (HzE) gibt das Land im laufenden Jahr voraussichtlich 415 Millionen Euro aus. Das sind – laut einer Prognose der Finanzverwaltung – 56 Millionen Euro mehr als im Landeshaushalt 2011 eingeplant. Die Kosten für Heimerziehung und betreutes Wohnen sind dabei nicht das Problem. Dafür müssen die zwölf Bezirke sogar weniger zahlen als gedacht. Es sind die stationären Hilfen, die das Budget der Jugendämter strapazieren. Der Bezirk Mitte liegt in diesem Bereich um 16 Millionen Euro über dem Plan, Pankow überzieht um fast 9 Millionen, Spandau um 7 Millionen. Treptow-Köpenick muss 2 Millionen drauflegen, Neukölln 7 Millionen und Reinickendorf 13 Millionen. Begründet werden die Steigerungen beispielsweise mit „erhöhter Unterbringung durch Kinderschutzfälle“, die zeitweise „Unterbringung zur Erfüllung der Schulpflicht“ und eine „intensive sozialpädagogische Einzelfallbetreuung“. Vereinzelt steigen die Kosten auch bei der Familienhilfe und bei gemeinsamen Wohnungen für Mütter oder Väter mit deren Kindern.

In der Ägide des Finanzsenators Thilo Sarrazin war es gelungen, die öffentlichen Ausgaben für Jugend- und Familienhilfen von 455 Millionen Euro auf 319 Millionen Euro (2006) zu drücken. Ein Vergleich mit Hamburg zeigte damals, dass sowohl die Fallzahlen als auch die Kosten pro Hilfe in Berlin deutlich höher lagen. Doch ab 2007 stiegen die Ausgaben wieder stetig an und überschritten 2009 die 400-Millionengrenze. Trotz aller Versprechungen der rot-roten Koalition für eine bessere Kostenkontrolle.

2009 einigten sich Senat und Bezirke auf ein neues System, um die Kosten der Jugend- und Familienhilfe besser in den Griff zu bekommen. Angestrebt wurde ein begleitendes „Fachcontrolling“, jährlich eine „Tiefenprüfung“ von drei Bezirken, ein flexibles Zuweisungsmodell für die HzE-Zuschüsse und verbindliche Zielvereinbarungen mit den Jugendämtern. Seit 2010 stiegen die Ausgaben nur noch im Rahmen der Teuerungsrate.

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