zum Hauptinhalt

Berlin: Hitlerjunge im Hinterhof

Das Straßentheater „Kiez to go“ in Lichtenberg

Stramm marschiert Karl-Heinz in kurzer Lederhose vorneweg. „Jetzt aber zackig. Marsch, Marsch!“, ruft der 14-Jährige. Folgsam laufen 20 Menschen mit City-Rucksäcken und Handys hinter dem ehrgeizigen Hitlerjungen her, die Lichtenberger Türrschmidtstraße hinunter, wo Karl-Heinz mehrere Päckchen der Gestapo zustellen soll. Ein Feierabend-Punk mit Hund und Bier traut seinen Augen nicht: „Dass ihr euch nicht schämt!“, ruft er dem seltsamen Aufmarsch hinterher.

Auf Straßen und Spielplätzen, in Hauseingängen und Hinterhöfen – an vielen Orten in Lichtenberg mag es zurzeit zu ähnlich irritierenden Begegnungen kommen. Hier mitten im Kaskelkiez erzählt das Straßentheater „Kiez to go“ in seinem Stück „Wege und Widerstand“ parallel sechs fiktive Lebensgeschichten aus dem Dritten Reich. Je 20 Zuschauer begleiten einen der sechs Protagonisten auf seinem dreistündigen Weg durch den Kiez, erleben in Spielszenen ein Stück NS-Alltag und können beobachten, wie sich aus menschlichen Grundkonflikten verschiedene Formen des Widerstands gegen das NS-Regime entwickeln. Wie beim Hitlerjungen Karl-Heinz, der sich wegen einer alten Freundschaft plötzlich in der Situation sieht, eine jüdische Lehrerin verstecken zu müssen.

Die Gefahr und unbewusste Versuchung, Geschichte zu beschönigen und einen Eindruck hervorzurufen, der aus Tätern und Mitläufern in der Rückschau Gutmenschen macht, sieht Regisseurin Christiane Wiegand nicht. „Wir zeigen viele Nebenfiguren, die gesinnungstreue Nazis sind. Doch wir wollten uns mehr mit den Widerständlern beschäftigen“, sagt die 32-Jährige. Viele Straßennamen in Lichtenberg wie die Harnackstraße oder der Tuchollaplatz trügen die Namen von Widerstandskämpfern, doch nur wenige Menschen wüssten Genaueres über deren Geschichte. Über ein Jahr haben Wiegand und ihre Mitarbeiter recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen, bis sie sich ein Bild vom Leben im Kiez um 1942 machen konnten. Auf dieser Grundlage wurden die sechs fiktiven Biografien entwickelt, die Texte entstanden überwiegend bei den Proben mit den rund 40 Schauspielern.

Von ihnen sind etwa ein Viertel Profis wie die junge, wunderbar frisch spielende Schauspielerin Antje Lea Schmidt. Der größere Teil sind Anwohner aus Lichtenberg und Friedrichshain zwischen 17 und 53 Jahren, die seit April geprobt haben. „Das Zusammentreffen der Generationen gehört für mich zum gesellschaftlich relevanten Theater“, sagt Wiegand. Den meisten Laiendarstellern habe die neue Erfahrung so gut gefallen, dass sie auch weiterspielen wollen. Eva Kalwa

Heute sowie 24.–26.9. (17 bis ca. 20.30 Uhr). Karten 8, erm. 6 Euro. Start am Lovelite-Club in der Simplonstr. 38/40 (S-Bahnhof Ostkreuz), Ende an den Blo-Ateliers (S-Bahnhof Nöldnerplatz). Infos/Karten: www.kieztogo.de oder Tel. 4280 7199.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false