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Berlin: „Ich habe mich zum ersten Mal persönlich verletzt gefühlt“

Albert Meyer, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, über den Streit um den 8. Mai, die „Stolpersteine“ und den Antisemitismus an Schulen

Herr Meyer, was bedeutet für Sie persönlich der 8. Mai?

Der 8. Mai ist für mich persönlich der Tag der Befreiung meiner Eltern vom Nationalsozialismus. Ich bin 1947 in Berlin geboren. Meine Eltern haben zwischen Dezember 1943 und Mai 1945 illegal in Leest bei Potsdam gewohnt. Dass die russischen Truppen kamen, das hat meine Eltern gerettet.

Wie haben Sie den Umgang mit diesem Datum in Deutschland erlebt?

In meiner Jugend wurde dieser Tag in der Bundesrepublik ja nicht gerade als Tag der Befreiung empfunden, sondern mehr als Tag der Kapitulation, wenn nicht sogar der Niederlage. Ich glaube aber, dass Richard von Weizsäcker mit seiner Rede 1985 ein Signal gesetzt hat, dass auch alle deutschen Bürger verstehen, dass sie von dem Übel des Nationalsozialismus befreit wurden.

Was halten Sie dann von den Bemühungen, die deutschen Kriegstoten und Vertriebenen stärker in den Vordergrund zu stellen, wie dies zuletzt in Steglitz-Zehlendorf geschehen ist?

Also, erst mal halte ich es für notwendig, auch die Kapitel der Vertreibung und der deutschen Kriegsopfer verantwortungsbewusst aufzuarbeiten. Schwarze Löcher darf es nicht geben, da sie ein Feld für die Radikalen und ihre Fantasiegeschichten und Propaganda eröffnen. Das ist in der Nachkriegszeit entweder bewusst oder unbewusst beiseite geschoben worden, und dadurch ist ein Vakuum entstanden. Und so besteht hier ein Bedürfnis, nicht nur ein berechtigtes, sondern ein zwingendes Bedürfnis, dies aufzuklären, wobei es eben vorsichtig gemacht werden muss. Es kann nicht in vergleichender Form mit den Verbrechen des Nationalsozialismus erfolgen, und ich bin auch nicht der Meinung, dass es angebracht ist, dies am 8. Mai zu tun. In dem Beschluss des Bezirks Steglitz-Zehlendorf wird nicht genügend auf die Ursachen der Vertreibung hingewiesen, darauf, dass das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg angefangen und den Krieg dann auf die Sowjetunion ausgeweitet hat. Die Rote Armee hat unsägliche Menschenopfer gebracht, um den Nationalsozialismus zu besiegen. Da kann man die Vergehen der russischen Soldaten nicht in einem Atemzug mit dem 8. Mai nennen.

Ist das Dummheit oder hat das Methode?

Also, ich möchte nicht den Leuten in Zehlendorf unterstellen, dass es Methode hat. Ich hoffe, das ist Dummheit. Als ich den Beschluss gelesen habe, fühlte ich mich zum ersten Mal in Berlin persönlich verletzt. Was jetzt in Sachsen passiert ist mit der NPD, das ist für mich eine ganz andere Sache. Hier in Berlin war so etwas für mich nie eine Diskussion. Und ich glaube, auch in der Vergangenheit habe ich immer darauf hingewiesen, dass gerade Berlin für mich immer eine liberale Stadt war, sogar während des „Dritten Reiches“. Ich hatte noch nie so eine Konfrontation in Berlin. Ich habe mich jetzt zum ersten Mal gefragt, ob ich nicht die Situation in Deutschland für mich falsch einschätze. Mein Vater hatte die Situation in den Dreißigerjahren ja vollkommen falsch eingeschätzt. Ich bin aber trotz allem nicht der Meinung, dass es in Berlin einen bodenständigen Antisemitismus gibt.

Wie verfolgen Sie die Diskussion um die „Stolpersteine“, die an Juden erinnern, die von den Nazis umgebracht wurden? In Charlottenburg dürfen die Steine nicht mitten auf dem Gehweg verlegt werden.

Ich finde diese Art des Erinnerns sehr schön. Es erschreckt mich aber, wenn ich höre, was es für Widerstände gibt. Rein sicherheitstechnisch bin ich ja bereit zu akzeptieren, dass sie nicht zehn Zentimeter aus dem Boden ragen, so dass man da tatsächlich nachts darüber stolpert. Aber wenn ich höre, was von Hauseigentümern und Anwohnern für ein Widerstand geleistet wird, das ist für mich nicht mehr nachvollziehbar. Also, wenn sich da der Baustadtrat aus dem Fenster lehnt und sagt, die müssen weg, dann ist das nicht nur allein seine Idee. Ich denke schon, da stehen dann viele Hausbesitzer dahinter.

Was meinen Sie, was in den Leuten vorgeht, die dagegen protestieren?

Ich möchte mal vorsichtig Folgendes sagen: Ich habe das Gefühl, dass grundsätzlich in Deutschland das Bedürfnis besteht, dass die Bevölkerung gerne selbst in eine Opferrolle möchte.

Selbst bei Schülern – das wurde durch eine Studie jetzt wieder deutlich – spielen die alten Vorurteile von der jüdischen Weltverschwörung und ähnlichem wieder eine Rolle. Was läuft falsch in den Schulen?

Nehmen Sie den Geschichtsunterricht. Der setzt plötzlich bei 1933 ein und 1945 hört er auf. Das wird dann drei Jahre hintereinander im Unterricht gepredigt. Das kann zu Gegenreaktionen führen. Man muss natürlich die Periode vorher behandeln. Man muss auch das Judentum in Deutschland nicht als einen einzigen Geschichtskreis ’33 bis ’45 sehen. Juden leben seit 2000 Jahren in Deutschland. Man muss die historische Entwicklung, die gesellschaftliche Position innerhalb der deutschen Gesellschaft aufarbeiten, und dann muss man auch die Gründe, die zum Nationalsozialismus geführt haben, meines Erachtens viel mehr erarbeiten. Michael Blumenthal versucht das ja verzweifelt im Jüdischen Museum, indem er immer erklärt, dass es eben eine Geschichte ist, die über 2000 Jahre geht.

Eine Erkenntnis dieser Studie aus den Schulen ist, dass Juden grundsätzlich Opfer sind. Da wird gesagt, „du Jude“, und gemeint ist, „du Opfer“. Das spiegelt sich so im Slang der Schüler wider.

Ich glaube eher, was die junge Generation angeht, gibt es hier noch ein ganz anderes Phänomen. Hier wird der Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern nach Deutschland transportiert. Die Palästinenser haben die Opferrolle, die Juden sind die Bösen, endlich hat man mal einen Grund, auf die Juden zu zeigen.

Sie haben schon mit uns über Ihren Vater gesprochen. Haben Sie sich damals gefragt, warum er 1945 trotz allem in Deutschland geblieben ist?

Meine Familie hatte Ausreisevisa für die USA bekommen. Aber nach dem Krieg gab es wenig zugelassene Anwälte. Mein Vater wurde gleich 1945 amerikanischer, russischer, englischer und französischer Militäranwalt. Es war also sein wirtschaftliches Interesse hier zu bleiben. Und er konnte auch nicht genügend Sprachen, um auszuwandern.

Haben Sie später mit Ihrem Vater darüber diskutiert?

Ich sage es mal so, da gab es schon Diskussionen, wobei mein Vater immer den Standpunkt vertreten hatte, dass es die richtige Entscheidung war. Es ist eine etwas schizophrene Situation, wenn Sie in einem Land aufwachsen, dessen Bevölkerung Ihren Eltern ja nicht gerade gut gesonnen war für eine gewisse Periode. Und das hat schon zu Diskussionen geführt. Es hat ja auch dazu geführt, dass meine Schwester das Bedürfnis hatte, aus Deutschland auszuwandern. Sie ist 1961 nach Amerika gegangen.

Michel Friedman hat jetzt im Tagesspiegel Dinge gesagt, von denen man den Eindruck haben könnte, er sitzt schon auf gepackten Koffern.

Ich habe dieses Amt hier übernommen als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, weil ich eben auch möchte, dass meine Tochter in diesem Land aufwachsen kann.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Markus Hesselmann.

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