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Berlin: Ilona Gräfe (Geb. 1967)

Sie band ihre langen weichen Haare zu einem festen Knoten, ging in die Bank

Eines Tages kann Ilona nicht mehr schlucken. Sie sitzt im Auto, auf dem Beifahrersitz, neben ihr ihre Mutter. Die Mutter redet. Alles ist wie immer. Ilona beißt ein Stück von einem Brötchen ab. Und kann es nicht hinunterschlucken. Sie wendet den Kopf zum Fenster, würgt still. Es geht nicht. Jeder gesunde Mensch kann schlucken. Man wird geboren und kann schlucken. Auch Ilona hatte damit niemals ein Problem. Sie hält sich mit einer Hand am Türgriff fest, tastet mit der anderen nach einer Wasserflasche, trinkt. Der Bissen bleibt in ihrem Mund. Die Mutter redet weiter.

Da begreift Ilona: Sie will nicht. Will nicht mehr diesen Brocken hinunterschlucken, nicht mehr all die Worte ihrer Mutter, nicht mehr ihr Leben voller Pflichtbewusstsein. Sie erinnert sich an eine Szene, sie war 13, vielleicht 14, die Mutter wartete im Auto vor der Schule auf sie, wie jeden Tag. Ilona stieg ein, die Mutter fuhr los, nahm aber nicht den üblichen Weg nach Hause, sondern hielt auf einem AldiParkplatz. „Schau genau hin“, sagte sie, „Schau hin. Du kannst dich entscheiden: Entweder machst du etwas aus deinem Leben oder du wirst hier Kassiererin.“

Ilona machte ihr Abitur, dann eine Lehre bei der Bank. Jeden Tag zog sie einen dunklen Rock und eine helle Bluse an, band ihre langen weichen Haare zu einem festen Knoten, ging in die Bank, füllte Papiere aus, rechnete, beriet Kunden, immer einnehmend, immer zuvorkommend. Am Abend bereitete sie sich ein kleines Abendbrot, rief ihre Mutter an, legte sich zeitig zu Bett, mit einem Buch, Gustave Flaubert, F. Scott Fitzgerald oder Katherine Mansfield.

Selten löste sie noch am Tag den Haarknoten, zog sich eine Jeans an und ein T-Shirt und traf sich mit alten Klassenkameraden. Die hatten im Ausland gelebt oder ihre Studien doch nicht zu Ende geführt oder Kinder bekommen. Ilona hörte ihre Geschichten gern.

Und eines Morgens, als Ilona gerade den Computer in ihrem Büro anschaltete, begann sie zu husten. Ein trockener, krampfhafter Husten. Sie presste ein Taschentuch vor ihren Mund. Sie trank ein Glas Wasser. Sie öffnete das Fenster. Der Husten blieb. Sie meldete sich ab und lief zum Arzt. Der überwies sie sofort in eine Klinik. Eine dunkle Stelle auf dem rechten Lungenflügel, teilte man ihr mit, wir operieren. Die Operation gelang, das Unheil war abgewendet.

Ilona lernte einen Mann kennen. Sie fuhr mit ihm in die Normandie, nach New York und nach Neuseeland. Sie dachte über Kinder nach.

Bis zu diesem Tag, an dem sie plötzlich im Auto der Mutter nicht mehr schlucken kann. Sie bittet einen Psychologen um Rat, bricht die Beziehung zu ihrem Freund ab, telefoniert nicht mehr mit der Mutter. Der Therapeut schlägt Ilona eine Therapie vor. Nach und nach soll sie das Schlucken wieder lernen, zunächst nur weiche Nahrung zu sich nehmen, immer viel trinken, es später, vorsichtig, mit festeren Speisen probieren. Sie geht mit dem Therapeuten in Restaurants, bestellt sich Suppen und gekochtes Gemüse, schiebt sich irgendwann, behutsam, ein Stück Brot in den Mund. Und schluckt es hinunter. Eines Tages, nachdem die Teller bereits auf dem Tisch stehen, steht der Therapeut auf und sagt: „Ilona, heute schaffst du es allein.“ Und er verlässt das Restaurant. Ilonas Hände werden feucht. Sie konzentriert sich. Schafft es allein.

Sie läuft zu ihrem Freund, sagt, wie sehr sie sich ein Kind von ihm wünsche, er lacht und drückt sie an sich, bis sie anfängt zu husten. Dunkle Stellen auf dem rechten und auf dem linken Lungenflügel, teilt man ihr in der Klinik mit, wir können nicht mehr operieren. Tatjana Wulfert

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