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Berlin: Ilse Jacobson (Geb. 1920)

„Denken Sie an Deutschland ohne Bitterkeit!“

Liebes Ilsechen, Papi und Mami sind im Kino. Geh schon mal ins Bett. Papi und Mami.“

Da war sie neunundvierzig, als die Eltern ihr diesen Zettel schrieben. Sie sollte Kind bleiben, lebenslang behütet, als hätten sie die Uhr anhalten können. Und sie wollte Kind bleiben, den Eltern zuliebe, die ohne ihre stete Anhänglichkeit in der Fremde an Heimweh zugrunde gegangen wären.

Mit sechzig, nach dem Tod des Vaters, wurde sie selbstständig, suchte sich einen Freundeskreis, begann ihr eigenes Leben.

Ilses Kindheit in Deutschland war sorglos gewesen. Zwanzig Jahre lebte die Familie in der Brandenburgerstraße 73 in Berlin-Kreuzberg. Das Haus existiert heute nicht mehr, die Straße trägt einen anderen Namen. Arthur Jacobsohn war praktischer Arzt und Geburtshelfer. Ein Patriot, Soldat im Ersten Weltkrieg, vom ersten bis zum letzten Kriegstag im Einsatz, ein deutscher Held, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse, und einer der vielen, die an der Weimarer Republik zweifelten: „Die glorreiche Zeit des Deutschen Reiches ist mit dieser Niederlage für immer vorbei.“

Doch es schien besser zu kommen als erwartet. Arthur Jacobsohn gründete eine Familie, eröffnete eine Praxis, brachte es zu einigem Wohlstand. Natürlich, Ressentiments waren zuweilen zu spüren, aber die richteten sich gegen die orthodoxen Juden, die zugewanderten, die nicht assimilierten. Die Jacobsohns selbst hatten einen großen Freundeskreis, Juden wie Nichtjuden, das machte keinen Unterschied, denn sie fühlten sich als Deutsche.

Die Machtergreifung Hitlers 1933 schien ihnen eine Zäsur, aber keine Katastrophe. „Es wird für immer ein Geheimnis bleiben, warum wir von den tragischen Ereignissen so überrascht waren, die folgten“, schrieb der Vater später.

Die Diskriminierungspolitik der Nazis fand willige Helfer, die sich geradezu überstürzten, die „rassische Bereinigung“ ihres Berufsstandes voranzutreiben, zum Wohle der Volksgesundheit und der eigenen Bilanzen. Bereits 1933 versandten die Kassenärztlichen Vereinigungen Fragebögen zur Feststellung der „arischen Abstammung“. Bald darauf wurde jüdischen Ärzten die Zulassung entzogen, Ausnahme jene, die am Krieg teilgenommen hatten. Die Jacobsohns wiegten sich in Sicherheit. „Wir waren guten Mutes, wir dachten, das ist eine Frage der Zeit …“

Es war tatsächlich nur eine Frage der Zeit. 1938 wurde Arthur Jacobsohn die Approbation entzogen, von da an durfte er nur noch Juden behandeln, sein neuer Titel: „Krankenbehandler“. Der Reichsärzteführer Gerhard Wagner, späterer SA-Obergruppenführer und Mitverantwortlicher des Euthanasie- und Sterilisierungsprogramms, stellte befriedigt fest: „Diesen jüdischen Verbrechern ist jetzt das Handwerk gelegt.“

Die deutsche Ärzteschaft war jene akademische Berufsgruppe, die die meisten Parteimitglieder aufwies – woran man sich nach dem Krieg nur ungern erinnerte, wie die Historikerin Rebecca Schwoch erfahren musste. Als sie die Schicksale jüdischer Ärzte in Berlin recherchierte, darunter auch das von Arthur Jacobsohn, stieß sie meist auf Unverständnis, zuweilen auf offene Aggression. Es fehle an Verständnis für die Handlungen der Ärzte in dieser Zeit, wurde ihr vorgehalten, Erinnerungen an die Mittäterschaft wachzurufen sei „postmortale Klugscheißerei“. Zu viele hatten zu gut an der Vertreibung ihrer Kollegen verdient.

Viel Geld war den Jacobsohns nicht geblieben, und das wenige lag auf einem staatlich kontrollierten Sperrkonto. Ilses Mutter Elisabeth rieb sich auf, um die nötigen Papiere für die Flucht zusammenzubringen: Die Ausreiseerlaubnis, die Schiffspassage, die Bescheinigung eines US-Bürgers, der für den Unterhalt der Einwanderer bürgte.

Sie bestach den Reisebüroangestellten mit 100 Reichsmark, um auf die Warteliste gesetzt zu werden. Und sie hatte Glück: Für den 30. März 1939 erhielt sie drei Passagen nach Havanna.

Den Finanzbehörden musste eine Liste übergeben werden, mit allem, was sie in die Emigration mitnehmen wollten. Ein Gerichtsvollzieher kam, prüfte die Liste. Zuvor waren schon sämtliche Schmuckstücke geschätzt worden, um die Steuer zu taxieren. Es blieben: die Armbanduhr, der Trauring und ein Besteck für jeden. Das Mobiliar wurde an die Nachbarn verkauft. Mit 150 Reichsmark traten sie die Reise an.

Zum Abschied kam ein alter Mann aus der Nachbarschaft in die Wohnung, er hatte eine Zange bei sich und zog die letzten Nägel aus der Wand mit den Worten: „Die können Sie doch sowieso nicht mitnehmen.“ Dr. Weber, der Verlobte jener Ärztin, die das meiste des Besitzes aufgekauft hatte, brachte die Familie zum Taxi und bat: „Denken Sie an Deutschland ohne Bitterkeit!“

Im April 1939 erreichte das Schiff Kuba. Tante und Onkel kamen Tage später auf einem anderen Schiff nach. Die Familie Jacobsohn stand am Hafenpier, konnte ihnen zuwinken. Aber das Schiff erhielt keine Ankererlaubnis und musste nach Deutschland zurückkehren. Tante und Onkel kamen im KZ um.

Ilse lernte in den anderthalb Jahren auf Kuba Spanisch, verdiente Geld mit Babysitting und ernährte so die Familie.

Im Winter 1940 gelangten sie nach New York, dann nach Chicago. Von nun an waren sie Amerikaner, sie verordneten sich Patriotismus, aus dem Namen Jacobsohn ließen sie das h tilgen.

Dem Vater war es vorerst nicht erlaubt zu praktizieren, er musste das medizinische Examen nachholen, was ihm mit 56 Jahren gelang. Ilse wollte Ärztin werden, aber ihr fehlte ein entsprechender Schulabschluss und das Geld. Sie wurde Lehrerin für Spanisch und Deutsch, suchte sich den Schwerpunkt Sonderpädagogik, unterrichtete Lernbehinderte nach ihrem eigenen Lehrbuch „Step by Step“.

Sie hätte gern eine Familie gehabt, aber die Eltern drängten sie, darauf zu verzichten. Den Enkelkindern sollte ein Leben in dieser Welt erspart bleiben.

Auf Einladung des Senats kam Ilse Jacobson in den siebziger Jahren für zwei Tage in ihre Heimatstadt. Stadtführung und Hotel, mehr wagte sie nicht.

Am 10. September 2001 kam sie erneut, Tag der Stifter im Jüdischen Museum, sie brachte einige der Auswanderungspapiere ihrer Eltern. „Das scheint mir ein guter Ort dafür zu sein. Nach meinem Tod hätte das Altersheim die Sachen sowieso verbrannt.“

Sie trug ein rot-weißes Kleid mit Streublumen, extravagant wie immer in der Farbwahl; und sie fröstelte, denn es war ein kalter Tag in Berlin. Sie mied den Kontakt zu Älteren, suchte das Gespräch mit den Jungen: „Du bekommst eine Chance, aber dein Grandad nicht.“

Mit einer Frau, die ihre Tochter hätte sein können, blieb sie im Gespräch, auch noch am nächsten Tag, am 11. September 2001. Als sie vom Terrorangriff erfuhr, geriet sie in Panik, sie wollte sofort zurück. Die unauslöschliche Angst, das Land nicht verlassen zu können. Die unauslöschliche Angst, das wenige an Hinterlassenschaft zu verlieren, was die Familie ins Exil hatte retten können. Die Berliner Praxisunterlagen des Vaters, sorgsam gehütet über die Jahrzehnte, und das Besteck.

Ilse nahm das erste Flugzeug zurück in die Staaten. Aber sie blieb in Kontakt mit ihrer „Berliner Tochter“ wie auch mit allen anderen Freunden und Schülern, die in der Welt verstreut waren, und die sie nun, dank des Internets, wieder daheim versammeln konnte. Nicht zuletzt, um ihnen Lebensratschläge zu geben. Das Altersheim war für sie nur eine weitere pädagogische Anstalt. Sie unterrichte Spanisch und Deutsch, gab Computerkurse, umsorgte ihre Freunde. Ihre Namensvetterin Ilse, die als Kind allein nach Amerika geschickt wurde, weil die Eltern sich nur eine Schiffspassage leisten konnten, und Trudel, die nie wieder Deutsch sprechen wollte, und aus der es dann nur so heraussprudelte, als die Berliner Freundin zu Besuch kam.

Da wurde aufgetischt: deutsche Küche. Ilses Spezialität Baumkuchen. Das Rezept stammt aus dem Kochbuch ihrer Großmutter. Eine Loseblattsammlung mit handschriftlichen Notaten und eingeklebten Küchentipps von Dr. Oetker. Ein zweites Heiligtum: das kleine Blumenbuch aus der Insel-Bücherei. Denn Ilse unterhielt eine Intensivstation für kränkelnde Pflanzen und war durchaus zur Eitelkeit geneigt, wenn einer ihrer Pfleglinge auf Blumenschauen prämiert wurde.

Aber das größte Glück ihrer letzten Lebensjahre war es, eine Freundin in ihrer Heimatstadt gefunden zu haben. Ihr vererbte sie das Kochbuch und das kolorierte Foto, Ilse als Kind mit großer roter Schleife in den Haaren, das war ihr letzter Wunsch: „Damit ich wieder in Berlin bin.“ Gregor Eisenhauer

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