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Berlin ist Provinz: Im Bann der Kiezwelt

Berlin mag trotz aller Bemühungen keine erstklassige Weltstadt sein. Es ist trotzdem lebens- und liebenswert. Piotr Buras ist sich sicher: Roger Boyes’ Abschieds-Essay ist in Wahrheit eine verkappte Liebeserklärung.

In der Sonntagsausgabe hat „Times“- Korrespondent und Tagesspiegel-Kolumnist Roger Boyes mit einem Essay von Berlin Abschied genommen. Unter der Überschrift „Wie Berlin uns alle betrügt“ kritisiert der profilierte britische Journalist und Buchautor Berlin als Stadt, die von der „Schlafkrankheit“ befallen sei und sich wieder stärker öffnen müsse. In loser Folge schildern nun andere ausländische Korrespondenten ihre Sicht auf die deutsche Hauptstadt. Heute: Piotr Buras von der polnischen „Gazeta Wyborcza“.

Es fällt schwer, von Berlin Abschied zu nehmen. Man braucht ja nicht 20 Jahre am Stück in der Stadt zu leben, um sich dessen bewusst zu werden. Diese provinzielle Metropole entwickelt einen Sog, dem man kaum widerstehen kann. Und wer sich dem Bann dieser Kiezwelt entziehen will, der steht sofort unterm Rechtfertigungszwang. Erklärungsbedürftig ist, nicht Berliner sein zu wollen, nicht umgekehrt. Der Berliner Lebensstandard ist einmalig. Die (immerhin) niedrigen Mieten gehören dazu genauso wie die Seen drum herum, die Tagesmütter um die Ecke und die Muße der Berliner Luft natürlich. Nicht zu vergessen das Ballhaus Naunynstraße und viele andere Dinge, die das Leben lebenswürdig erscheinen lassen. Wo sonst kriegt man so viel aufgetischt, unverdient und irgendwie selbstverständlich?

Es muss also gute Gründe geben, um den Schritt raus aus der Stadt zu wagen. Und es ist daher nachvollziehbar, dass sich Roger Boyes verpflichtet fühlt, diese Gründe den staunenden Lesern plausibel zu machen. Nun ist er mit seinem Versuch gänzlich gescheitert. Seine Rechtfertigung ist keine. Ich wette, sie wird ihm nicht abgenommen.

Sich über den fehlenden großstädtischen Schwung, über die Verschuldung und den Mangel an Strebsamkeit der Berliner Hauptstadt zu beklagen ist müßig und billig. Das wissen wir doch alle. Es ist aber vor allem sehr unberlinerisch, was bei einem Berliner wie Roger Boyes den Verdacht der Unehrlichkeit nahelegt. Eine Weltstadt zu sein, dynamisch und schwungvoll, ist bestimmt der allerletzte Wunsch, der dem Durchschnittsberliner beim Morgenkaffee durch den Kopf geht. Wollte man die Stadt umkrempeln, einen richtigen Ruck auslösen, müsste man sie aufs Neue entwerfen. Na ja, ein kleiner Elitenwechsel könnte nicht schaden, die S-Bahn ist auch verbesserungsfähig – und dieser Hundekot! Aber sich mit London oder Paris messen? „Sich den Begleiterscheinungen einer beschleunigten Welt zu stellen“, wie Boyes einfordert?

Ja, Berlin ist eine zweitklassige Hauptstadt. Darin liegt Berlins Andersartigkeit, die mit Schlafkrankheit nicht verwechselt werden sollte. Der Provinzialismus ist Berlins Lebenselixier und Alleinstellungsmerkmal. Berlin lebt im Kiez und wird dort lange verweilen. Die unzähligen Diskussionen über den Wiederaufbau des Schlosses, über das Einheitsdenkmal oder über die neue Altstadt in Mitte sind ohne großes Echo in der Bevölkerung vergangen. Ob Berlin eine neue Mitte, den Rang als Weltstadt – oder: Drang zur Weltstadt – überhaupt braucht, interessiert ein paar Architekten und Stadtplaner. Vielleicht haben die Berliner ein besseres Gespür dafür, was ihre Stadt wirklich ausmacht. Dieses Berlin ist der beste deutsche Exportartikel: ein Inbegriff Deutschlands, das bekanntlich eine große Provinz ist.

Lassen wir die üppigen Subventionen beiseite: Boyes beklagt doch nicht nur die Verschuldungsökonomie (zu Recht), sondern auch das Lebensgefühl der Stadt, die ihrer Tradition als Avantgarde nicht mehr gerecht werde. Ja, leere Kassen sind nie ein gutes Rezept dafür, sich den Respekt zu verschaffen und als Vorbild zu gelten. Doch die Vorstellung, man müsse mit den Großmetropolen dieser Welt mithalten, hat in sich etwas von gestern. Die Urbanität ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, der Epoche des Klimawandels, der Überbevölkerung und der Energieengpässe. Berlin sollte neue Wege suchen, statt sich der Beschleunigung dieser Welt hinzugeben. Kann die deutsche Hauptstadt nicht ein Experimentierfeld der neuen, ökologischen Moderne sein, der Postwachstumsgesellschaft und nicht zuletzt der gerade verabschiedeten Energiewende? Vom Lebensgefühl her ist sie dazu sehr geeignet, mit einer grünen Bürgermeisterin wäre Berlin vielleicht noch einen kleinen Schritt weiter in dieser Richtung. Die künftige Transformation der Gesellschaft soll der Orientierungspunkt sein, nicht die verblassten Götzen der Vergangenheit.

Ich bin sicher, Roger Boyes würde es gern hier miterleben. Es gibt aber bestimmt wichtige Gründe, die seine Rückkehr nach London unumgänglich machen, die er uns aber nicht verraten will. Sein gutes Recht. Daher wirkt aber seine Abschiedsrechtfertigungsschrift so künstlich und unglaubwürdig. Oder kindisch: wie bei einem Schuljungen, dem seine Klassenfreundin gefällt und der, statt ihr es zu sagen, mit roten Wangen an ihren Zöpfen zerrt. Das Spiel kennen wir gut. Boyes’ Essay ist eine verkappte Liebeserklärung. Er muss gehen, will es aber nicht. Das wird vielen von uns passieren. Vielleicht ist es an der Zeit, an eigene Rechtfertigungsstrategien zu denken.

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