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In OMAS ZEITung (11): Kirchentag

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Berlin ist fest in der Hand von Posaunenbläsern und Kirchentagsbesuchern.

Gläubig war meine Oma Thea mit Sicherheit nicht, schon in den 40er Jahren ist sie aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Gottesdienste hat sie auch später fast nie besucht. Und wenn, dann eher zu Unterhaltungszwecken – und nicht, um auf Seelenheil oder Erleuchtung hinzuarbeiten. Das hindert sie im Juli 1951 nicht daran, an drei Tagen hintereinander in der „Neuen Zeitung“ über den Kirchentag zu schreiben, der in Gesamt-Berlin stattfindet. „80 000 Kirchentagsgäste sind bereits in Berlin, und noch immer treffen neue Sonderzüge ein“, berichtet sie. Da sich auch die Behörden im Osten der Stadt an der Organisation beteiligen und Gläubige aus beiden Hälften des geteilten Landes anreisen, hat der Kirchentag unter der Losung „Wir sind doch Brüder“ eine höchst politische Dimension.

Die Artikel meiner Oma drehen sich aber eher um die kleinen Leute – wie zum Beispiel jene zwölf Jungs, die am Messegelände allein mit der Kraft ihrer dünnen Ärmchen ehrenamtlich die Glocken läuten. „Die Blasen an ihren Händen beachten sie als Männer nicht“, schreibt meine Oma anerkennend. Ihre Texte lesen sich so, als habe sie sich als Reporterin doch ein bisschen vom Enthusiasmus der Kirchentagsbesucher anstecken lassen, die in der ganzen Stadt unterwegs sind. „Man erkennt sie leicht“, schreibt sie. „Nicht nur an ihren Kirchentagsabzeichen, sondern vor allem an ihren für jede Kleinigkeit interessierten Augen, ihrem Dialekt und ihrer Mitteilsamkeit, die aus übervollem Herzen kommt.“

Der Kirchentag scheint sogar eine selten gezeigte, aber durchaus vorhandene Eigenschaft der Berliner zum Vorschein zu bringen: die Gastfreundschaft. Die Einwohner ertragen nicht nur, dass rund um die Gedächtniskirche und überall in der Innenstadt Volksmissionare predigen und „2000 Posaunenbläser aus allen Gegenden Deutschlands“ Kirchenlieder zum Besten geben. Die Stadt scheint alle Besucher tatsächlich mit offenen Armen zu empfangen. „Allein in Westberlin wurden 165 Massenquartiere eingerichtet in Gemeindesälen, Schulen, Fabriken und Zeltlagerplätzen“, berichtet meine Großmutter. „Allein in einem Gemeindehaus kamen in kurzer Zeit 250 Brote und anderthalb Zentner Fett zusammen, als bekannt wurde, dass Ostzonengäste verpflegt werden müssten.“

Viele Besucher wollen ihren Aufenthalt auch zu touristischen Zwecken nutzen. „Die einen fragen, wo sie am billigsten Schuhe kaufen können, die anderen wollen einen Sommerstoff mitnehmen, und viele wollen nur einfach so wie früher konditern gehen“, schreibt meine Oma. Die meisten kennen Berlin nur aus Vorkriegstagen – und saugen nun alle Eindrücke auf: „Das ist ein Erlebnis, von dem wir lange zehren werden, erzählen die aus dem Osten Kommenden.“ Ob damit das Konditern oder die anderthalb Zentner Fett gemeint sind, verschweigt meine Oma souverän.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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