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In OMAS ZEITung (19): Herrin der Stühle

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: ein Berliner Original im Tiergarten.

Was genau qualifiziert einen Berliner oder eine Berlinerin eigentlich als „Original“? Muss man hier geboren sein? Muss man ordentlich berlinern? Oder eine mittelgroße Meise haben – und den Drang, sie seinen Mitmenschen vorzuführen? Genau beantworten kann ich das nicht. Dass es Berliner Originale gibt, ist aber unstrittig. Als gute Lokalreporterin ist meine Oma Thea in den 50er Jahren natürlich auf der Suche nach Menschen, die aus der Masse herausragen. Am 9. Mai 1954 hat sie jemanden gefunden und in der „Neuen Zeitung“ porträtiert. Der Text trägt den Untertitel: „Die Herrin der Stühle im Tiergarten – Gespräch mit einem Berliner Original.“

Das Original verdient sein Geld mit der Vermietung von Sitzgelegenheiten im Tiergarten. „Man lernt es sofort kennen, wenn man sich auf einem der dort in Reih und Glied stehenden 60 grünen Gartenstühle niedergelassen hat“, schreibt meine Oma. „Schon kommt das Original, nun, nicht gerade gesprungen, aber doch flink daher und bietet die Hand. Auch zum Gruß, wenn man unbedingt will, aber eigentlich um fünf Pfennig ,Sitzgebühr‘ zu kassieren.“ Anna Reder ist 82 Jahre alt und betreut die Stühle im Englischen Garten seit 28 Jahren, „ob Sonntag, ob Feiertag, ob Geburtstag, von 9 bis 21 Uhr“.

Frau Reder ist nicht allzu gesprächig, berichtet meine Oma, „sie hält es wie ihre Kunden mehr mit der Natur und der Ruhe“. Als große Neuheit bietet Frau Reder im Sommer 1954 endlich auch Liegestühle an, eine Stunde Fläzen für 20 Pfennig. Sie lässt sich nicht übers Ohr hauen: „Stuhlpreller hat’s immer, auch schon 1916 gegeben, jedoch sind sie verhältnismäßig selten.“ Frau Reder berichtet von einem Erlebnis aus der Zeit vor dem Krieg, „da der Tiergarten mit seinen rauschenden Wipfeln noch Waldformat hatte“, wie meine Oma schreibt. Damals habe Frau Reder zwei junge Mädchen, die unrechtmäßig auf Stühlen saßen, belauscht: „Wenn die Olle in Sicht ist, flitzen wir.“ Aber die Herrin der Stühle kennt ihr Geschäft und weiß, wie man sich anschleicht. Mit einem triumphierenden „die Olle ist schon da“ schnappte sie sich die Übeltäterinnen und kassierte die fälligen zehn Pfennige ab.

Leider scheint sich die journalistische Darstellungsform des Porträts in der „Neuen Zeitung“ zu den Zeiten meiner Oma noch nicht durchgesetzt zu haben. Viel zu selten kommt man einem normalen Berliner oder einer Berlinerin wirklich nahe. Auch über Frau Reder würde ich gerne noch mehr erfahren. Immerhin schreibt meine Oma, leere Stühle seien „ein Greuel“ für die alte Dame, dafür habe sie es im Gefühl, wenn sich ein Kunde nähere: „Ich brauch’ mich gar nicht erst umzusehen.“

Das nächste Mal, wenn ich durch den Tiergarten radle, werde ich mich selbst nach Frau Reder umsehen. Und wenn die Olle in Sicht ist, bestelle ich ihr Grüße von meiner Oma.
Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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