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Im Einsatz für die "Neue Zeitung": Dieter Wildt (ganz links) bei einer West-Berliner Wahl im Dezember 1950.

© promo

In OMAS ZEITung (30): Der Kollege

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Ein Kollege meldet sich und berichtet von der "Neuen Zeitung".

Die Stimme von Herrn Wildt klingt am Telefon brüchig, aber hellwach. Er hat mir eine E-Mail geschickt: „Ich erinnere mich noch an Ihre Großmutter, die Sekretärin und spätere Reporterin Dorothea Spannagel in der Lokalredaktion der Berliner Ausgabe der ,Neuen Zeitung‘.“ Als meine Oma Thea bei der Zeitung arbeitet, fängt Dieter Wildt dort gerade als Volontär an, mit 19 Jahren ist er der jüngste Mitarbeiter. Und heute, mit knapp 87, sagt er mir: „Ich glaube, ich bin der letzte Überlebende der ,Neuen Zeitung‘.“

Konkrete Erinnerungen an meine Oma hat Herr Wildt nicht, dafür kann er viel darüber erzählen, unter welchen Bedingungen die Berliner Redaktion zwischen 1948 und 1955 gearbeitet hat. Zunächst arbeiten Herr Wildt, meine Großmutter und ihre Kollegen in einem von den Amerikanern beschlagnahmten Wohnhaus in der Buggestraße 10 in Steglitz. Alle Mitarbeiter bekommen ein kostenloses Mittagessen, ohne Lebensmittelmarken – ein zu dieser Zeit unschätzbar wertvolles Argument für den Job.

„Da war nur der Wille, nichts Fachliches“

Es gibt sogar drei oder vier Telefonanschlüsse, deren Nutzen allerdings begrenzt ist. Kaum jemand ist damals telefonisch erreichbar, die Reporter sind stundenlang zu Fuß oder mit der U-Bahn unterwegs – und bringen meist nur ein einziges Zitat oder eine Fünf-Zeilen-Meldung mit zurück.

Die Chefs bei der neuen „Neuen Zeitung“ sind oft in die USA emigrierte jüdische Journalisten, die nun in amerikanischer Uniform zurück in ihre Heimat kommen. Frauen sind die Ausnahme in der Redaktion, doch nicht nur meine Oma stellt bald fest, dass auch die Männer „nur mit Wasser kochen“, wie Herr Wildt erzählt. Die ehemaligen Sekretärinnen haben zwar keine Ahnung vom Journalismus, doch sie stürzen sich mit großem Eifer auf die Arbeit. „Da war nur der Wille, nichts Fachliches“, sagt er mir am Telefon. „Es wurde alles improvisiert. Es musste ein Blatt gemacht werden.“

Dieser Satz hat mich sehr gerührt. Denn auch heute noch muss ein Blatt gemacht werden, jeden Tag. Die Pionierzeiten, in denen sich meine Oma und Herr Wildt abstrampelten, sind zwar lange vorbei. In ihrem Kern aber ist unsere Arbeit dieselbe geblieben. Es gibt nichts Schöneres, als den Lauf der Welt – und dieser wunderbaren, unmöglichen Stadt – jeden Tag einzufangen und für den Leser aufzuschreiben.

Nach dem Abitur hat Herr Wildt alle Zeitungen in Berlin abgeklappert, in Ost und West. Er geht einfach hin, zu Fuß, stellt sich beim Portier vor und sagt: „Ich möchte hier arbeiten. Was machen Sie mit mir?“ Er bleibt sein Leben lang Journalist. „Ich bin hängen geblieben“, sagt er. Ich sage: Er hat sich verliebt.

Eine Dreiviertelstunde telefoniere ich mit Herrn Wildt, dann muss ich mich verabschieden und auflegen. In der Tagesspiegel-Sportredaktion ist eine wichtige Besprechung angesetzt.

Und danach, wie immer, muss ein Blatt gemacht werden.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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