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Interview: „Nofretetes kleine Kuhle am Hals ist so erotisch“

Nackte Menschen passen zu schwarzen Fliesen – und Rot strahlt schön kräftig: Wie Hilde Léon Bauherren austrickst und warum sie die Gedächtniskirche bewundert.

Frau Léon, Berlins Architektur ist …

... viel gelungener, als sie gerade diskutiert wird. Obwohl ich mich über vieles ärgere.

Im Moment wird über die Zukunft der Stadt heftig diskutiert. Was ist für Sie der jüngste Sündenfall?

Im Brennpunkt der Debatte steht das Hostel am Hauptbahnhof. Wirklich schlimm, das Haus sieht wie ein gebautes Funktionsdiagramm aus – ein Kasten ohne Seele. Er fällt so besonders auf, weil er im Moment noch alleine dasteht, wie auf dem Präsentierteller. Da kommen jeden Tag Tausende von Menschen aus dem Bahnhof heraus und sehen als Erstes so eine banale Kiste.

Der Architekt des Hauptbahnhofs, Meinhard von Gerkan, sagt: „Die billigste und ordinärste Architektur entsteht gerade am Hauptbahnhof.“

Ja! Und das ist so schade. Bevor Sie fragen, das Hostel wurde nicht im Baukollegium diskutiert. Aber die drei, vier Blöcke, die gleich daneben entstehen, die sind Stoff von Diskussionen gewesen. Mehrfach. Und die werden besser. Die vier beteiligten Büros beziehen sich in ihrer Architektur aufeinander. Die Fassaden sind anspruchsvoller. Außerdem wurden mehr öffentliche Nutzungen im Erdgeschoss verlangt. Hoffentlich bleiben die Architekten bei der Umsetzung beteiligt. Denn auch das ist häufig der Grund, warum die Ergebnisse so enttäuschend sind.

Wann wird das Kollegium gefragt?

Zum Beispiel wenn der Bezirk um Unterstützung bittet, weil abzusehen ist, dass es an baulicher Qualität mangelt. Oder wenn Investoren dichter bauen als erlaubt. Es ist nicht so, dass sie wie Anfang der 90er Jahre Schlange stünden und sagten: Wann können wir endlich hier bauen? Im Kollegium versuchen wir einen Konsens zu finden. Die Investoren sollen bauen, aber die Stadt braucht auch Qualität.

Das Baukollegium tagt hinter verschlossenen Türen – das wird kritisiert.

Wir ringen um Architekturqualität. Dazu braucht man auch mal einen geschützten Raum zum Diskutieren. Es ist ja nicht ganz unproblematisch, wenn ein Architekt zusammen mit dem Investor sein Projekt vorstellen muss – und das Kollegium vielleicht dem Bauherrn nahelegt, lieber einen Wettbewerb auszuschreiben. Da sind die Beteiligten logischerweise nicht begeistert. Auch aus dem Grunde muss man den Kreis klein halten. Wir wollen niemanden vorführen.

Wie entsteht denn gute Architektur?

Nur aus einer guten Kombination von Bauherr und Architekt. Ein Architekt allein schafft das nie, und gegen seinen Bauherrn kann man nun auch nicht arbeiten.

Herr Gerkan hat gegen seinen Bauherrn, die Deutsche Bahn, sogar geklagt.

Das passierte erst, als in der Bauphase grundsätzliche Veränderungen durchgesetzt wurden – und zwar ohne Rücksprache mit dem Architekten. Eine echte Verschlechterung. Wäre der Bahnchef Mehdorn von Anfang an dabei gewesen, hätte Gerkan diesen Bahnhof nicht bauen können.

Bei welchem Projekt haben Sie mal eine glückliche Zusammenarbeit erlebt?

Bei der Indischen Botschaft. Das war ein Wettbewerb unter zwölf deutschen Architekten, die Jury war zur Hälfte deutsch, zur anderen Hälfte indisch. Einem Bauherrenvertreter, einem sehr netten und kultivierten Inder, hat unser Konzept wirklich gefallen. Der rote Sandstein aus Indien, die eingeschnittenen Höfe, Gärten und Treppen. Da wollten viele Menschen mitsprechen, aber er hielt die schützende Hand über uns.

Es gab Kritik, weil nur deutsche Architekten zum Wettbewerb zugelassen waren.

Oh ja, das haben die indischen Architekten ihrem Land ziemlich übel genommen. Wir haben allerdings von Anfang an gesagt, wir arbeiten nur mit indischem Material und indischen Handwerkern zusammen. Sogar der Fußboden ist landestypisch, aus samtigem blassgrünem Kotastein – jede Schule, jedes Krankenhaus, jedes öffentliche Gebäude hat den in Nordindien. Das war zunächst ein Konflikt.

Warum?

Unsere indischen Auftraggeber hätten lieber Carrara-Marmor gesehen, was ganz Edles, aber für das Land Fremdes. Letztlich kam uns zugute, dass der indische Kalkstein preiswerter war als der italienische Marmor.

Als Architektin brauchen Sie ein dickes Fell, müssen sich ständig mit Einsprüchen auseinandersetzen.

Daniel Libeskind soll mal gesagt haben, er freue sich über jeden, der Einwände gegen sein Projekt hätte, sei es die Feuerwehr, der Bauherr, oder die Bauaufsicht. Das würde ihn zwingen, noch mal darüber nachzudenken – und das stimmt auch.

Sie brauchen Geduld. Nicht jeder Wettbewerbsgewinn wird am Ende realisiert.

Letztes Jahr haben wir sieben erste Preise gewonnen, drei Projekte davon sind was geworden, das ist schon ein guter Schnitt. Ob unser Entwurf für das olympische Dorf in München Chancen hat, wird die Abstimmung über die Winterspiele am 6. Juli entscheiden. Wissen Sie, worüber am meisten diskutiert wird bei solchen Planungen?

Verraten Sie es uns.

Die Farbe. Dazu hat jeder eine Meinung. Manchmal muss ich einfach sagen: Entschuldigung, haben Sie doch ein bisschen Vertrauen!

Welche schrillen Kombinationen muten Sie den Menschen denn zu?

Wir haben gerade eine Hauptschule in Wattenscheid gebaut, blassrosa Putz neben einem Bestandsbau aus rotem Ziegel. Zu Beginn hagelte es böse Briefe. Das war den Menschen erst mal fremd. Innen gibt es neben Weiß zwei Rot-Töne an den Wänden, das hat auch provoziert.

Roter Sandstein, verschiedene Rot-Töne, Sie scheinen ein Faible für diese Farbe zu haben.

Stimmt. Ich finde, Rot hat eine strahlende Kraft. Inzwischen kommen aus Wattenscheid positive Rückmeldungen, zum Beispiel von der Direktorin. Ehrlich, an einer Schule darf man ruhig mal ein bisschen mutiger sein.

In einem Schulneubau in Köpenick ließen Sie deshalb schwarze Fliesen in den Duschen verlegen.

Da gab es großen Ärger mit den Lehrern. Aber den haben wir mit dem zugegeben erfundenen Argument ausgehebelt, dass nackte Menschen vor einer schwarzen Wand besser aussehen als vor einer weißen. Eine ähnliche Diskussion hatten wir beim Gebäude des Sozialverbandes an der Jannowitzbrücke. Da ging es um eine anthrazitfarbene Fassade mit farbigen Fenster-Elementen. Auf der entscheidenden Sitzung sagte ich spontan: Eine bunte Krawatte sieht mit einem dunklen Anzug auch besser aus. Damit war das erledigt.

In Berlin sagt der baupolitische Sprecher der FDP: „Wenn Investoren etwas bauen wollen, dann sollen sie es so bauen können.“

Sehen Sie, deswegen wähle ich nicht die FDP. Ich glaube nicht an diese Art Liberalismus.

Sind Sie für eine stärkere Bürgerbeteiligung?

Ein Architekt muss eine Meinung haben, eine Stadt eine Position – es ist gut, die zur Debatte zu stellen. Aber ich glaube nicht, dass die Qualität besser wird, wenn zu viele Menschen mitreden. Wir haben uns zum Beispiel geärgert, dass wir am Wettbewerb für den Mauerpark teilgenommen haben. Verschleuderte Energie! Die Gräben zwischen Investor und Bürgern, einer sehr heterogenen Gruppe, waren zu groß. Da passiert jetzt nichts mehr. Mir gefällt, was auf dem Tempelhofer Feld geschieht. Mit Zwischennutzungen probiert man verschiedene Dinge aus, um dann ein langfristiges Konzept umzusetzen.

Und was gefällt Ihnen sonst an Gebäuden in Berlin?

Da fällt mir natürlich sofort die Philharmonie ein. Die Gedächtniskirche ist wunderbar: der Raum, dieses blaue Licht, das abends nach außen und gleichzeitig nach innen in die Kirche strahlt. Das funktioniert, weil sie eine Doppelfassade hat, einen beleuchteten Zwischenraum. Selbst ich als Architektin habe das lange nicht begriffen. Wenn ein Gebäude innen wie außen stimmig ist und in der Stadt steht, als dürfe man es nicht verrücken, ist das ein Beispiel für gute Architektur.

Der Architekt des Neubaus, Egon Eiermann, wollte die Ruine abreißen. Erst nach Empörung der Berliner schwenkte er um.

Ein gutes Beispiel, dass Proteste zu einem besseren Ergebnis führen, wenn sie in das architektonische Konzept einbezogen werden.

Demnächst steht die Kirche im Schatten des Waldorf Astoria, eines Hotelhochhauses mit 31 Etagen.

Das ist natürlich ein Problem, weil die Dimensionen der Stadt sich dadurch ändern. Hier wäre eine Debatte im Baukollegium sinnvoll gewesen, aber es war ja entschieden, bevor es das Gremium gab.

In Berlin wird ein Hotel nach dem anderen gebaut. Haben Sie ein Lieblingshotel?

Mein Lieblingshotel befindet sich nach wie vor in der Schweiz, auf der Kleinen Scheidegg, in den Bergen. Da bin ich mit meinem verstorbenen Mann und Büropartner Konrad Wohlhage und meiner Tochter oft gewesen und fahre noch heute hin. Das ist ein altes Haus mit viel Raum und Gemeinschaftsfläche, es gibt keinen Fernseher, keine Musik. Das Hotel wurde von einem jungen Paar übernommen, er Architekt, sie Musikerin, die bauen das langsam und sehr diskret um.

Wir haben den Eindruck, Architekten schlafen privat am liebsten im Altbau.

Ich wohne auch so. Das liegt daran, dass die Altbauten viel Raum bieten, die sind wahnsinnig flexibel, bei uns hatte schon jedes Zimmer eine andere Funktion. Man kann mit der Familie darin wohnen, mit einer Wohngemeinschaft und ehrlich gesagt: auch ganz gut alleine. Und so hohe Räume kann man gar nicht mehr bauen! Zum Glück ist man von den 2,50 Metern der lichten Raumhöhe im sozialen Wohnungsbau nach langen Kämpfen bei drei Metern angekommen. In meiner Charlottenburger Wohnung in der dritten Etage habe ich noch 3,60 Meter. Der wahre Luxus von Architektur ist Raum.

Sie wollen kein eigenes Traumhaus bauen?

Mein Traum ist das nicht. Mein Mann und ich haben uns das mal überlegt, ein eigenes Haus zu bauen, aber wir lieben das städtische Leben.

Sie entspannen also im Altbau?

Ja, zum Beispiel beim Kochen. Oder beim Joggen im Wald. Meine Freundinnen haben mich vor vier Jahren mit dem Joggen gerettet, da hatte ich eine schwierige Zeit. Neulich war ich segeln, das war ganz toll, auch weil man sich so konzentriert dabei, dass man alles andere vergisst. Und ich lese viel. Kennen Sie Edgar Allen Poes Geschichte „Der Mahlstrom“?

Leider nicht.

Das ist ein schöner Text und hat viel mit Entwerfen zu tun. Da gerät ein Mann in den Mahlstrom, und er muss, um zu überleben, genau beobachten, wie sich das Wasser verhält. Sonst hat er keine Chance. Dadurch kommt er zu einer unkonventionellen Lösung, nämlich sich nicht auf das vermeintlich sichere Boot zu verlassen, das ist viel zu schwer, das wird langsam in den Strudel hineingezogen, sondern aus dem Boot hinauszuspringen, dann ist er leicht und wird nach oben gespült.

Was hat das mit Entwerfen zu tun?

Man muss offen sein, suchen und beobachten, dann findet man neue Lösungen. Ich lese gerne Romane, ich finde es toll, in eine andere Welt einzusteigen. Ich brauche abends so einen Moment der Ruhe. Eines meiner Lieblingsbücher ist Uwe Johnsons „Jahrestage“. Es ist so vielschichtig, und es spielt in New York.

Sie haben ein Faible für New York?

Natürlich, ich liebe Großstädte! So wohne ich auch, mittendrin. Im Winter gucke ich auf die Stadtbahn, im Sommer auf die grüne Hölle.

In welcher Stadt möchten Sie gerne bauen?

Am liebsten in Mailand. Die Stadt ist so pulsierend, besitzt viele sichtbare historische Bauten von den Römern bis hin zur Moderne, zum Beispiel das tolle Pirelli-Hochhaus aus den 50er Jahren, direkt am Bahnhof. Das ist eine imposante Scheibe von Giò Ponti, die schlank und selbstbewusst in der Stadt steht.

Italiener behaupten, Mailand sei die hässlichste Stadt des Landes.

Das stimmt nicht! Sicher, Rom ist der Klassiker in Sachen Schönheit. Vor kurzem war ich da, habe eine italienische Freundin besucht und mit ihr die neuen Gebäude angeguckt. Das Museum Maxxi von Zaha Hadid ist ein wildes Gewirr ineinander verschlungener Röhren und verändert positiv das ganze Quartier. Leider sind die Ausstellungsräume nicht so überzeugend.

Was fehlte ihnen?

Sehen Sie, es war eine wunderbare Skulptur von Pistoletto ausgestellt, die „Lumpenvenus“. Vor Jahren habe ich sie mal in München gesehen, im ehemaligen U-Bahn-Tunnel am Lenbachhaus, so eine klassische Rückenansicht, schöner Rücken, schöner Po, und davor lag ein Berg alter Kleider. In Rom steht die frei im Raum und verschwindet inmitten anderer Exponate. Man konzentriert den Blick nicht auf die Skulptur, weil alles offen ist.

Nicht so wie der Saal für die Nofretete im Neuen Museum.

Der ist wunderbar! Und genial ausgeleuchtet. Da ist jede Rückenfalte zu sehen, die kleine Kuhle am Hals. Das ist geradezu erotisch! Der Blick konzentriert sich vollkommen auf die Büste. Und auch das Gebäude ist ganz großartig

Sie unterrichten auch Entwurf an der Leibniz-Universität in Hannover. Wie sind die Studenten heute?

Wohlerzogen. Sie wollen immer was bauen, was noch nie da gewesen ist: je komplizierter, desto kreativer. Wir diskutieren viel darüber, dass das Neue keine Qualität an sich ist, sondern immer eine Interpretation dessen, was schon da ist. Architektur ist keine autistische Kunst, sie bezieht sich auf etwas Bestehendes.

Und was raten Sie denen angesichts der Krise?

Dass Leidenschaft trägt. Ich sage ihnen, sie sollen nicht auf die Konjunktur schielen, die ändert sich sowieso, sondern das studieren, was sie wirklich wollen. Dann kommt man auch über die Krisen.

Sie können bei Ihnen anfangen. Mittlerweile sind Sie ein Unternehmen mit 30 Angestellten …

… und alle sind fest angestellt. Ein fertiger Architekt wird bei uns nicht als Praktikant beschäftigt.

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