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Berlin: Invasion aus der Vergangenheit Ikonen der 80er: Gerhard Seyfrieds Wahlplakat für Christian Ströbele

Von Holger Wild Es gab eine Zeit, da lag auf dem durchschnittlichen Kreuzberger WG-Klo neben Donald-Duck-Heften und älteren „Spiegel“-Nummern auch mindestens ein Comic von Gerhard Seyfried. „Freakadellen und Buletten“, „Invasion aus dem Alltag“ – Standardwerke links-alternativer Bewusstseinsbildung.

Von Holger Wild

Es gab eine Zeit, da lag auf dem durchschnittlichen Kreuzberger WG-Klo neben Donald-Duck-Heften und älteren „Spiegel“-Nummern auch mindestens ein Comic von Gerhard Seyfried. „Freakadellen und Buletten“, „Invasion aus dem Alltag“ – Standardwerke links-alternativer Bewusstseinsbildung. Die Welt in Seyfrieds Zeichnungen war sauber eingeteilt in raffgierige Kapitalisten, unterbelichtete Polizisten, pfiffige Hausbesetzer und schwarzbärtige Anarchisten mit einem Bömbchen in der Hand. Die 80er Jahre hatten gerade erst begonnen, die Alternative Liste (AL) saß seit kurzem im Abgeordnetenhaus, die Mauer schützte das linke Biotop Berlin – es war eine gute, alte Zeit.

Zwei Jahrzehnte sind vergangen. Und an Christian Ströbele vorbeigegangen. Zwar sind seine Haare ergraut, sein Gesicht aber ist straff wie 1981, als seine AL erstmalig ins Rathaus Schöneberg einzog. So leuchtet er von seinen Wahlplakaten in Kreuzberg; wie ein Messias, der uns ins gelobte Land führt. Seyfried hat zuletzt Science-Fiction-Comics gezeichnet – und nun Ströbeles Plakat. Und die Zukunft, die da verheißen wird – die kennen wir. Es ist die Utopie der 80er Jahre.

Hinter der Oberbaumbrücke geht strahlend die Sonne auf und schenkt ihr Licht dem ganzen Kreuzberger juste milieu. Da sind sie alle in Frieden und Wohlgefallen vereint: die baumliebenden Öko-Freaks, die umweltbewussten Radfahrer, die kiffenden Punks, die „taz“-lesenden Freiberufler, die fröhlichen Globalierungskritiker, Pazifisten, Antifaschisten und Migrantenkinder mit ihren Müttern im Kopftuch. Selbst Polizisten in Kampfuniform sind wohlgelitten in Ströbeles kuscheligem Kiez, wo der öffentliche Nahverkehr Vorrang genießt, Hochkultur und Arbeiterklasse künstlerisch wertvoll verschränkt sind (Hanns-Eisler-Straße), im Görlitzer Park ein jegliches Tier, ob Frosch oder Gorilla, sein Plätzchen findet und selbstverständlich von 0 bis 24 Uhr das Steineschmeißen verboten ist. Es wohnt ein Lied in allen Dingen, das heißt: Rückwärts zur Sonne, zur Freiheit! Und der Himmel hängt voller Luftballons; sie tragen das alte Zeichen der AL, den kampfeslustigen Igel.

Kein Platz in Ströbeles Sprengel ist nur für drei Sorten von Leuten: Kapitalisten und ihre korrupten Handlanger in der Politik, die werden fortgejagt in ihre Welt von Reichstag und Potsdamer Platz. Sowie drittens Realpolitiker, personifiziert im Haupt- und Staats-Renegaten und grünen Gott-seibei-uns Joschka Fischer. Und hier zeigt sich auch, das all dies keineswegs ironisch gemeint ist: Wenn’s um Fischer geht, versteht Ströbele bekanntlich keinen Spaß mehr.

Ideologie, sagt Marx, ist „verkehrtes Bewusstsein“. Wir sagen nur, dass in Ströbeles Welt die drei Hochhäuser am Potsdamer Platz – seitenverkehrt stehen.

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