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Berlin: Invasion der Raupen: Es wird haarig für den Tourismus

Der Eichenprozessionsspinner breitet sich weiter aus. Ganze Alleen haben die giftigen Tiere bereits kahlgefressen. Jetzt stornieren erste Gäste ihren Urlaub.

Von Matthias Matern

Perleberg - Eigentlich soll Uwe Neumann Touristen Lust auf Urlaub in der Prignitz machen, die zahlreichen Radwege anpreisen, Touristen ausgedehnte Wanderungen durch die unberührte Natur im Nordwesten Brandenburgs empfehlen. Doch derzeit ist in der Prignitz an sorglosen Urlaubsspaß in der Natur kaum noch zu denken. Das weiß auch der Geschäftsführer des regionalen Tourismusverbandes und rät deshalb zur Vorsicht: „Wir appellieren an die Gäste, vorsichtig zu sein und lange Sachen zu tragen. Außerdem sollte man beim Radfahren eine Sonnenbrille aufsetzen, damit die Brennhaare nicht in die Augen gelangen.“ Der Grund für die Warnung ist ein Schädling, der noch vor einigen Jahren in Brandenburg als Exot galt, sich mittlerweile aber mehr als ein Viertel der Landesfläche erobert hat und auch in Teilen Berlins zur Plage geworden ist. Gemeint ist der Eichenprozessionsspinner, ein Nachtfalter, dessen Raupen nicht nur für den Menschen giftig, sondern auch noch zur Bedrohung für den Inbegriff des deutschen Baumes, die Eiche, geworden sind.

Ganze Bestände sind den gierigen Schädlingen in diesem Jahr bereits zum Opfer gefallen, nahezu überall im Land hängen an den Eichen die markanten sackartigen Nester, und je weiter man in Richtung Nordwesten fährt, desto größer ist das Ausmaß der Schäden. An der Bundesstraße 96 zwischen Berlin und der südlichen Landesgrenze zu Mecklenburg-Vorpommern sind die Eichen am Straßenrand fast vollständig kahlgefressen. Forstexperten zufolge sind 200 bis 300 Hektar Wald in der Prignitz zum wiederholten Mal derart stark befallen, dass die Bäume abzusterben drohen. Erst Ende Juni hatte das Deutsche Rote Kreuz aus Brandenburg/Havel ein Ferienlager am Rudower See bei Lenzen wegen der Raupenplage abgebrochen. Innerhalb weniger Tage klagte rund die Hälfte der Jugendlichen über Hautausschläge. Ein Teilnehmer des Camps hatte nach einer Radtour entzündete Augen. Auch Dorffeste sollen schon abgesagt worden sein.

Inzwischen werden die ersten Stornierungen wegen der Eichenprozessionsspinner gemeldet, sagt Tourismuswerber Neumann. Aus der Kreisverwaltung heißt es, es gebe immer mehr Fälle von Hautreizungen, Postkarten und Briefe aufgebrachter Fahrrad-Touristen würden sich häufen. Uwe Neumann hat für die wachsende Verunsicherung Verständnis. „Wenn Sie Alleen haben und die sind komplett kahl, dann ist irgendetwas nicht gesund.“ Auch Hans Lange (CDU), Landrat des Landkreises Prignitz, bezeichnet die Lage als ernst.

Tatsächlich hat der Befall in diesem Jahr ein in der Region bislang nicht bekanntes Ausmaß erreicht. Ursprünglich war der Eichenprozessionsspinner vor allem im südeuropäischen Raum verbreitet, doch vom Klimawandel begünstigt, erobert er sich zunehmend auch Gebiete im nördlichen Mitteleuropa. Noch 2004 wurden die Raupen im Land Brandenburg lediglich in zwei kleineren Gebieten im Havelland und im Kreis Ostprignitz-Ruppin beobachtet. Bereits vier Jahre später war auch die Region Potsdam erstmals betroffen. 2011 meldeten Forstexperten des Landes den Befall von etwa einem Viertel der Landesfläche. „Wir haben eine Massenvermehrung, die es in diesem Umfang in unseren Breiten bisher noch nie gegeben hat“, sagt Matthias Freude, Präsident des brandenburgischen Landesumweltamtes (Lua). Grund für die explosionsartige Vermehrung sei das außergewöhnliche Wetter im April und Mai gewesen. „Extrem heiß und über mehrere Wochen trocken. Genau das, was die frisch geschlüpften Schmetterlingsraupen brauchen“, sagt der Lua-Präsident. Kommendes Jahr könne es allerdings schon wieder anders aussehen: „Eine Regenwoche Anfang Mai und die Bestände werden merklich dezimiert sein.“

Der Raupenplage durch menschliches Eingreifen Herr zu werden, ist kompliziert – zum einen, weil sich für eine nachhaltige Bekämpfung nur ein Zeitfenster von knapp vier Wochen im April bietet. Zum anderen, weil die behördlichen Auflagen umfangreich sind und die nötige Genehmigung vom Bund nur schwer zu bekommen ist. Denn angegriffen wird aus der Luft mit dem Insektizid Dipel ES. Das Präparat wird von einem Helikopter aus auf befallene Bäume gesprüht. In diesem Frühjahr ließ das brandenburgische Landwirtschaftsministerium nach eigenen Angaben zum Schutz der Eiche landesweit 770 Hektar Wald auf diese Weise behandeln. Für den Einsatz jedoch wird eine Ausnahmegenehmigung vom Bundesamt für Verbraucherschutz benötigt. Beim Bund jedoch werde das Eichenprozessionsspinner-Problem überwiegend als lokales Ereignis gewertet, meint Ministeriumssprecher Jens-Uwe Schade. Entsprechend zögerlich sei die Behörde bei Genehmigungen für Großeinsätze. Der Naturschutzbund Deutschland (NABU) lehnt den Einsatz von Chemikalien gegen den Eichenprozessionsspinner grundsätzlich ab. Das Insektizid töte nicht nur die Schmetterlingsraupen, sondern auch deren natürliche Feinde, sagt Jörg Gelbrecht, Sprecher des Fachausschusses Entomologie beim NABU Brandenburg.

Dort, wo die Gefahr für Menschen am größten ist, also auf Kitaspielplätzen, in Parks und waldnahen Siedlungen, ist die Bekämpfung der Raupen sogar noch schwieriger, weil die Auflagen strenger sind. Zudem greife dort nicht das Argument des Pflanzenschutzes, sondern es müssten Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit beantragt werden, erläutert Schade. Dafür seien aber wiederum die Gesundheitsbehörden zuständig, sagt der Ministeriumssprecher. Weil es in diesem Jahr für derartig abgestimmte Maßnahmen zu spät ist, bleibt nur das Absaugen und Abflammen der Gespinste durch Spezialfirmen. Doch landesweit sind die Schädlingsfirmen komplett ausgebucht und können die Berge von Aufträgen gar nicht mehr abarbeiten.

Neben einem verregneten kalten April für das kommende Jahr hofft der Lua-Präsident auf die natürlichen Feinde der haarigen Raupen. Viele sind es nicht, weil auch den meisten Singvögeln und selbst Ameisen die Schädlinge zu giftig sind. „Doch der Kuckuck mag die Raupen gerne.“ Ein weiterer Retter vor der Plage werde wohl noch eine Weile auf sich warten lassen: „Die wirklichen Feinde sind kleine Parasiten und heißen Raupenfliegen. Sie legen ihre Eier in die Raupen des Eichenprozessionsspinners ab. Später frisst deren Larve die Raupe von innen auf.“ Allerdings hinke die Population von Parasiten in der Regel der ihrer Wirtstiere um zwei bis drei Jahre hinterher.

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