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Serienheld: Autor Thilo Sarrazin.

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Jahresrückblick 2011: Zieht euch warm an!

Bernd Matthies’ ultimativer Jahresrückblick 2011: Thilo Sarrazin legt nach, Nicolas Berggruen will die marode S-Bahn übernehmen und Schnee entscheidet die Wahl in Berlin.

Januar:

Überraschung für die Berliner, die am Montag zur Arbeit fahren wollen: Die S-Bahn hat ihren Betrieb eingestellt. Wie eine Nachfrage in der Zentrale ergibt, hat das Unternehmen die letzte Stromrechnung nicht bezahlt und alle Mahnungen ignoriert. Man werde versuchen, überschüssige Dieselloks der Bahntochter Cargo auszuleihen und damit einen provisorischen Betrieb auf der Ringbahn einzurichten, heißt es. Die Schneedecke lastet weiter wie ein Albtraum auf der Stadt. Thilo Sarrazin kündigt zur Dresdener Buchmesse im März ein neues Buch an: „Man könnte sogar, ich sag mal, von einer Serie sprechen“.

Undercover: Klaus Wowereit verkleidet sich.
Undercover: Klaus Wowereit verkleidet sich.

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Februar: Nachdem die letzten Berliner Salzvorräte aufgebraucht sind, schreibt die Verkehrsverwaltung Autofahrern den Einsatz von Schneeketten vor. Unter großem Presserummel fährt ein S-Bahn-Zug mit Diesellokomotive einmal auf der Ringbahn im Kreis herum. Dann erklärt ein Abgesandter des Eisenbahn-Bundesamts die Aktion mit Hinweis auf die fehlende Betriebserlaubnis für beendet. Klaus Wowereit teilt mit, er werde im Senat prüfen lassen, ob der Bahnbetrieb ab 2017 an einen anderen Betreiber vergeben werden könne. Seine Gegenkandidatin für die Wahl im Herbst, Renate Künast, durchquert die Stadt auf einem Fahrrad, ausgestattet mit solarbeheiztem Ledersattel. Die Zukunft Berlins liege in solch cleveren Öko-Produkten, sagt sie.

März: Thilo Sarrazins Verlag teilt mit, es lägen bereits 125000 Bestellungen für das neue, streng geheim gehaltene Buch vor. Der Schleier wird in der Talkshow „Beckmann“ gelüftet: Es handelt sich um eine Serie, in deren Mittelpunkt die Berliner Bezirke stehen. Der erste Band heißt „Spandau schafft sich ab“ und basiert auf der Auswertung aktuellen statistischen Materials. Die FDP eröffnet den Wahlkampf mit einer Winterhilfsaktion: Alle noch vorhandenen Parteimitglieder der Stadt räumen die Eingangsbereiche von Berliner Apotheken. Nach drei Wochen gelingt es Martin Lindner und Mieke Senftleben, die Landpassage zur Eulen-Apotheke in Hermsdorf freizumachen.

April: Trotz der kritischen Verkehrslage werden in den ersten Wochen nach Erscheinen mehr als 250000 Sarrazin-Bücher verkauft. Wegen dieses enormen Erfolgs ziehen Verlag und Autor das Erscheinen des nächsten Bands „Köpenick schafft sich ab“ auf Mitte Mai vor. In der Talkshow „Hart aber fair“ geht es um das Thema „Hört der Winter überhaupt nicht mehr auf?“ Das Ergebnis bleibt vage. Richard David Precht sagt: „Wenn es eine Chance zum Umdenken gibt, dann gibt es auch eine Chance zum Umdenken in der Kälte“; Hans-Olaf Henkel schlägt als Mittel gegen das Wetter einen liberalisierten Arbeitsmarkt vor, und Heinz Buschkowsky gibt sich gelassen: „Das Wetter ist ganz okay, da kühlen meine Neuköllner Streithammel ein wenig ab.“

Mai: Renate Künast rutscht vom Fahrrad, weil die Sattelheizung ausfällt, steht auf und setzt ihren Wahlkampf zu Fuß fort. Allerdings wird die Parteibasis unruhig, weil das neue Internet-Portal Cityleaks mit der Veröffentlichung eines mehrere tausend Seiten umfassenden Schriftwechels zwischen der Spitzenkandidatin und Vertrauten im Ortsverband Reinickendorf ihrer Partei droht. Im Nahverkehr der Stadt kommt Hoffnung auf, weil Nicolas Berggruen die Übernahme der maroden S-Bahn für einen symbolischen Euro anbietet. Seine Bedingung – die Umbenennung in „Karstadtbahn“ – stößt allerdings auf wenig Gegenliebe beim Senat. Als rasches Entgegenkommen wird erwogen, den Bahnhof Wedding in „Bahnhof nicht weit von Karstadt“ umzubenennen.

Juni: Die Tagestemperatur liegt zum ersten Mal seit Jahresbeginn an einigen Tagen wieder knapp über der Null-Grad- Grenze. Thilo Sarrazin kündigt den dritten Band seiner Buchserie an: „Mitte schafft sich ab.“ Renate Künast wird vor den Bundesvorstand der Grünen zitiert, weil aus den bei Cityleaks veröffentlichten Dokumenten hervorgeht, dass sie Jürgen Trittin in internen Mails als „diesen Blödmann mit den Windmühlen“ bezeichnet hat. Dennoch steigt die Zustimmung zu ihrer Arbeit in den Umfragen weiter an: Bereits 65 Prozent der Wähler kündigen die Wahl der Grünen an.

Juli: Es schneit erneut. Der für den September vorgesehene Papstbesuch gerät ins Wackeln: Cityleaks-Veröffentlichungen belegen, dass ein Mitarbeiter der Senatskanzlei interne Dokumente an den Vatikan weitergeleitet hat. In Rom ist man empört darüber, dass Klaus Wowereit die Visite des Kirchenoberhaupts mit der Bemerkung infrage stellt, der Papst sei „weder arm noch sexy“. Die Grünen stellen ein neues Modell für den Flughafen BBI vor: Dort sollen nach Fertigstellung nur noch stündliche Zubringerflüge mit Propellermaschinen nach Halle-Leipzig International abgewickelt werden. Die Debatte um die abknickenden Flugrouten sei damit gegenstandlos, heißt es.

August: Auf der Baustelle des Flughafens BBI demonstrieren etwa 70000 Anwohner aus dem Berliner Süden für das Modell der Grünen. Klaus Wowereit und Matthias Platzeck dringen als Feuerwehrmänner verkleidet auf das Gelände vor und versuchen, die empörten Bürger von einer hohen Drehleiter aus zu beruhigen – erfolglos. Heiner Geißler und Margot Käßmann werden zu Schlichtern bestellt. Das Sommerfest zur Gründung der Karstadtbahn findet auf der zugefrorenen Spree an der Oberbaumbrücke statt.

September: Die Tendenz sämtlicher Landtagswahlen des Jahres setzt sich auch in Berlin fort: Die Grünen erringen im Schneegestöber einen Erdrutschsieg mit 70 Prozent der Stimmen. Martin Lindner, Mieke Senftleben und Hans-Olaf Henkel bekennen im Tagesspiegel: Ja, wir waren die drei, die FDP gewählt haben. Einige Tage später trifft der Papst mit dem Linienflug Rom–Berlin in Tegel ein, nimmt sich ein Taxi und fährt ins Berliner Rathaus, um sich dort ins Goldene Buch der Stadt einzutragen. Anschließend hält er vor dem Gebäude eine Audienz für rund hundert begeisterte Anhänger.

Oktober: Friedrichshain-Kreuzberg, wo die Grünen 90 Prozent der Erststimmen errungen haben, ernennt sich zum „Grünen Modellbezirk“. Erste Maßnahme: Google-Suchergebnisse dürfen innerhalb der Bezirksgrenzen nur noch verpixelt angezeigt werden. Klartext ist erst erlaubt, wenn nachgewiesen wird, dass die betreffenden Texte genfrei und geschlechtsneutral formuliert sind und die Gefühle muslimischer MigrantInnen nicht verletzen. Zuständig für Genehmigungen ist die nach ihrem kommissarischen Leiter benannte „Ströbele-Behörde“.

November: Thilo Sarrazins neues Buch trägt den Titel „Kreuzberg schafft sich ab“. Heiner Geißler und Margot Käßmann legen ihre Schlichtersprüche vor: Geißler betont, es gebe zur alten Planung keine Alternative, allerdings solle der Senat sich darum bemühen, den Abknickwinkel der Flugrouten auf 14,5 Grad zu beschränken. Käßmann ergänzt: „Du kannst nicht höher fliegen als in Gottes Hand.“ Sprecher der Bürgerinitiativen kündigen an, man werde die Schlichtersprüche durch das Bundesverwaltungsgericht überprüfen lassen.

Dezember: Das Ende der weltweiten Salzvorräte zwingt den Senat zu einer Notverordnung. Das Salzen von Frühstückseiern wird verboten, Nudeln und Gemüse müssen in eigens aufgetautem Schnee ohne Salzbeigabe gekocht werden. Martin Lindner übergibt die Berliner FDP für einen symbolischen Euro an Nicolas Berggruen. Thilo Sarrazin kündigt seine Autobiografie an, die den Titel „Sarrazin schafft sich ab“ tragen wird. In der Silvesternacht lässt abruptes Tauwetter die im Lauf des Jahres gewachsenen Schneegebirge auf einen Schlag schmelzen. Der Senat feiert den Jahreswechsel auf dem Fahrgastschiff „Havel-Queen“, das, gesteuert von Renate Künast, oben an der Quadriga anlegt. Pünktlich um Mitternacht versöhnt sich die Regierende mit Jürgen Trittin. Beide werfen fröhlich je eine Knallerbse auf den Boden.

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