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Hilf dir selbst. Carmen Schmidt und Antje Kleibs managen Selbsthilfegruppen in Südneukölln.

© Mike Wolff

Jubiläum der Berliner Selbsthilfekontaktstelle: In der Gruppe ist man weniger allein

Vor 30 Jahren öffnete die erste Selbsthilfekontaktstelle Deutschlands in Berlin. Seitdem hat die Nachfrage stetig zugenommen. Die Gründe der Betroffenen, Austausch zu suchen, haben sich über die Jahre geändert – und das Internet bietet nun eine Alternative.

Es gab eine Phase, da lag Anna Z. (35) tagelang auf dem Sofa und starrte mit leerem Blick geradeaus. Ausruhen, nur ausruhen wollte sie sich. Mehr nicht. Doch irgendwann hatte ihre Familie dafür kein Verständnis mehr – und ihr fehlten die Worte, um sich zu erklären. An diesem Zustand änderte sich monatelang nichts. Erst seitdem Anna Z. an einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit einer Depression teilnimmt, geht es ihr etwas besser. Endlich. Und ihrer Familie auch.

Die erste Kontaktstelle, die Selbsthilfegruppen in Berlin vermittelt, feiert in diesem Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. Sie befindet sich in einer kleinen Holzhütte in Gropiusstadt, im Süden Neuköllns. Umgeben von grauen Hochhäusern. Anfang der 80er Jahre waren zwei Faktoren entscheidend: Zum einen gewann die deutsche Suchthilfe seit den 60er Jahren zunehmend an Profil und zum anderen diskutierten Ärzte, wie sie schwer erkrankte Patienten auch mit psychischen Beschwerden besser versorgen könnten.

Was sich seitdem getan hat? „Zum einen ist die Nachfrage stetig gestiegen und zum anderen haben sich die Motive der Betroffenen etwas geändert“, sagt Carmen Schmidt, die die Kontaktstelle mit Antje Kleibs leitet. Zwar seien chronische Krankheiten nach wie vor das zentrale Thema, inzwischen seien aber andere Probleme hinzugekommen, die wie Anna Z. viele Menschen beschäftigen: Depression, Burn-out, soziale Ängste.

Während die Selbsthilfekontaktstelle in Gropiusstadt vor zehn Jahren drei oder vier Gruppen für Menschen mit Depressionen angeboten hat, ist mittlerweile das zehnte Angebot geplant. Die Gründe sieht Carmen Schmidt in den gestiegenen Anforderungen der Menschen im Alltag, dem zunehmenden Stress in ihrem Leben und der Enttabuisierung der Krankheit. „Betroffene haben heute nicht mehr den Ruf, verrückt zu sein.“ Und während sich viele Menschen früher für psychische Probleme schämten und keine Hilfe suchten, haben sie heute vielmehr das Problem, Hilfe zu finden.

Auf einen Therapieplatz müssen sie in der Regel ein halbes Jahr warten – oder länger. „Zwar bieten wir hier keine psychologischen Sitzungen an, aber dafür haben wir genügend Kapazitäten“, sagt Carmen Schmidt. Reden statt therapieren. Dies ist eines der Vorurteile, mit dem die Selbsthilfe noch heute zu kämpfen hat. Ein paar Plaudereien – das hilft mir doch nicht, sagen die einen. Bei den traurigen Geschichten der anderen fühle ich mich nur noch schlechter, sagen die anderen. Fragt man hingegen die Gruppenteilnehmer, erzählen sie etwas anderes. Sie fühlen sich mit ihren Gedanken weniger alleine und sind erleichtert, mit Menschen zu sprechen, die trotz der vielen Fragezeichen in ihren Köpfen Experten für ihr Leiden sind.

Alles begann in den 80ern. Berlins Vorbild folgten viele.

© privat

Manche Gruppen werden auch von einer Person angeleitet. Was sich in den vergangenen drei Jahrzehnten außerdem geändert habe, sei der Trend zur Selbsthilfe im Internet.

Auf der einen Seite sieht Carmen Schmidt darin eine Chance, weil Hilfesuchende aus dem ländlichen Raum sonst oft kilometerweit fahren müssten, um an einer Gruppensitzung teilzunehmen. Auf der anderen Seite würden sich die Menschen dadurch allerdings sehr isoliert mit ihren Problemen auseinandersetzen. Ohne die direkte Begegnung mit dem Gegenüber, ohne seine Gestik und Mimik, und ohne die Wärme eines liebevollen Wortes. Vor allem junge Menschen würden das persönliche Gespräch meiden und lieber nach Antworten im Netz suchen. Was die Konsequenz sein könnte? „Ich befürchte, dass die Menschen dadurch ungeübter im Sozialverhalten werden und Ängste vor dem Zwischenmenschlichen noch stärker zunehmen“, vermutet Carmen Schmidt.

Schon jetzt würden sich viele junge Frauen und Männer bei ihr melden, die sich überfordert fühlen. Überfordert im Umgang mit Prüfungen, überfordert im Umgang mit dem Partner. Oder allein mit der Tatsache, Tag für Tag aus dem Haus zu gehen.

- In einer Woche kommen rund 350 Menschen zu den 120 Selbsthilfegruppen im Süden Neuköllns, Lipschitzallee 80, 12353 Berlin, Tel.: 605 66 00. In ganz Berlin vermitteln zwölf Selbsthilfekontaktstellen rund 2000 Gesprächsgruppen – zudem gibt es Sekis, die Zentralstelle für Selbsthilfe, Bismarckstr. 101, 10625 Berlin, Tel.: 892 66 02. Sie öffnete 1983 kurz nach der Anlaufstelle in Gropiusstadt . Bundesweit nutzen acht Prozent der Bürger ein Angebot der Selbsthilfe.

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