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Jubiläum: Die Rolltreppe wird 120

Am 16. Januar 1893 wurde die erste Rolltreppe in Betrieb genommen, allerdings in New York. Berlin musste noch 32 Jahre warten. Rekordlängen wie Moskau oder Hongkong hat die Stadt zwar nicht aufzubieten, doch ist der Anteil der defekten Treppen Spitze.

Vorwärts immer, rückwärts nimmer: Kaum etwas könnte das Projekt der Moderne besser symbolisieren als die Rolltreppe. Ihr Auftreten macht das Dorf zur Stadt, die Ladenstraße zum Einkaufszentrum, das Ferkeltaxi zum Nahverkehrssystem. So, wie der Fahrstuhl das Hochhaus überhaupt erst denkbar erscheinen ließ, erschloss die Rolltreppe das Kaufhaus und den Untergrund der Städte; ihre horizontale Schwester, der Fahrsteig, ist heute die Lebensader jedes besseren Flughafens.

120 Jahre alt ist die Treppe selbst, und sie rollte natürlich in Amerika an: Am 16. Januar 1893 wagten sich die ersten Fußgänger auf eine Art schräges Förderband mit Holzplanken, das in der New Yorker Cortlandt Station installiert worden war und sich später nicht gerade zügig ausbreitete, weil es als ziemlich gefährlich galt. Die Erfindung selbst geht sogar auf das Jahr 1859 zurück, doch Nathan Ames, der sich das Prinzip der beweglichen Stufen ausgedacht hatte, scheiterte an der zu komplizierten Technik. Internationales Aufsehen erregte die Treppe erstmals auf der Pariser Weltausstellung 1900. Dort startete der Patentinhaber, die Otis Elevator Company, den Siegeszug des heute üblichen Modells.

Deutschland bewegte sich im 19. Jahrhundert noch überwiegend am Boden und zeigte wenig Interesse an dem neumodischen Zeug. Erst der Siegeszug des Kaufhauses brachte überhaupt Bedarf ins Land. Zunächst nahm Tietz in Köln Mitte 1925 eine erste Treppe in Betrieb, dann folgte zum Weihnachtsgeschäft desselben Jahres auch das Tietz-Haus in der Leipziger Straße in Berlin. Ein umgeschulter Liftboy stellte sich unten auf und gab den bänglich begeisterten Kunden Hilfestellung; über nennenswerte Unfälle ist nichts bekannt.

Erst die Rolltreppe, so schrieb Rem Kohlhaas in seinem „Guide to Shopping“, habe den Übergang aus der Zweidimensionalität von Markthalle und Passage zur modernen, mehrgeschossigen Mall ermöglicht. Es handelt sich, kulturkritisch betrachtet, um ein Transportmittel, das den bislang individuell über die Stufen einer festen Treppe ausschreitenden Flaneur stoppte und ihn in eine passive Menschenmasse einfügte – sie mobilisiert den modernen Menschen und lähmt ihn gleichzeitig.

Allerdings tut sie das, ohne wie der Fahrstuhl atavistische Urängste zu wecken: Eine Rolltreppe stürzt nie ab und wird nie zum Gefängnis. Stoppt sie unerwartet, verwandelt sie sich einfach in eine harmlose Treppe, wenn auch mit beschwerlich hohen Stufen. Allerdings ist die moderne, sanft gleitende Version, die der Experte kategorisch „Fahrtreppe“ oder „Stetigförderer“ nennt, technisch etwas ganz anderes als die rumpelnde Holztreppe seligen Angedenkens, die beispielsweise im KaDeWe noch bis in die siebziger Jahre ihren Dienst verrichtete.

Berlin ist eine Stadt der Rolltreppen, auch wenn die echten Schaustücke – bewegliche Wendeltreppen oder Rolltreppen mit Absatz – ihren (störanfälligen) Dienst anderswo verrichten. Auch die längsten rollen nicht in Berlin, denn für die 126 Meter der vier Treppen in der Moskauer Metro-Station Park Pobedy gäbe es hier keinen Bedarf. Und auch einen Berg haben wir nicht, der wie in Hongkong mit einer 800 Meter langen Treppe für die rastlosen Arbeiter- und Angestelltenarmeen zu erschließen wäre. Dafür darf der neue Hauptbahnhof mit seinen 60 im transparenten Raum schwebenden Treppen quasi als die Sixtinische Kapelle dieser epochalen Technik gelten.

Diese Technik birgt allerdings, wie jeder Nutzer weiß, auch das Potenzial zum echten Ärgernis. Denn der Großstadtmensch, zumal in seiner ewig dynamisch ausschreitenden Berliner Form, passt sich dem behäbigen Tempo der Rolltreppe nicht an, sondern transzendiert es durch zusätzliches Aufsteigen – der ewige Konflikt der linken Überholspur. Wer sie nutzen will, hat es mit mauligen Teenagern, liebesblinden Paaren und rucksackbedingt schnaufenden Rentnern zu tun, die regelwidrig den Durchgang blockieren, aufmüpfig oder verpeilt, das ist meist schwer zu unterscheiden.

Wer sich ruppig mit einem geheuchelt freundlichen „Darf ich mal bitte?“ durchschiebt, hat das Recht auf seiner Seite, muss aber damit rechnen, dass er später in irgendeiner Londoner Zeitung als Musterbeispiel des nicht aussterben wollenden Hunnen gebrandmarkt wird. Diese Minderheitenposition vertritt auch prononciert der Berliner Schriftsteller Sten Nadolny: Er beschwerte sich über den „Terror“, dass man links immer gehen müsse, der jede Unterhaltung unterbinde.

Ohne Diskussion ärgerlich ist natürlich die Rolltreppe in ihrer defekten Form. Berlin hat ihr ein permanentes, zu Messezeiten stets besonders eindringliches Denkmal am Tiefgeschoss der Kreuzung Masurenallee/Messedamm gesetzt, pflegt sie aber auch liebevoll auf allen U- und S-Bahnhöfen. Bisweilen scheint es, als würden weltweit anfällige Rolltreppen gesammelt und nach Berlin geschafft, um hier quietschend und knarrend die letzten Tage ihrer Existenz zu durchleiden; es kann aber auch sein, dass die hiesigen Vandalen besonders raffinierte Zerstörungstricks kennen. Völlig auszuschließen ist nur eines: dass andere Städte ähnlich viele kaputte Rolltreppen haben.

Nur sehr sportbewussten Menschen ist das egal. Sie stählen sich auf den festen Stufen, denn sie wissen, dass Rolltreppen mit ihrer tückischen Bequemlichkeit träge und krank machen und jede nur denkbare Zivilisationskrankheit befördern. Ein besonders schillerndes Exemplar führt im Olympiastadion von den Spielerkabinen aufs Sportfeld. Bitte, wozu das denn? Im Grunde ist es kein Wunder, dass die blau-weiße Hertha in periodischen Abständen verweichlicht und in den Tabellenkeller fährt – als gäbe es auch dorthin eine Rolltreppe.

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