zum Hauptinhalt

Jüdisches Gymnasium: Ein "Mosaiksteinchen" in der Berliner Schullandschaft

Ist das ein weiteres Stückchen deutsch-jüdische Normalität? In dieser Woche haben erstmals seit dem Holocaust wieder 19 Abiturienten der Jüdischen Oberschule ihre Abschlussprüfungen gemacht.

Ist das ein weiteres Stückchen deutsch-jüdische Normalität? In dieser Woche haben erstmals seit dem Holocaust wieder 19 Abiturienten der Jüdischen Oberschule ihre Abschlussprüfungen gemacht. Und wenn am kommenden Sonntag die ersten Abiturzeugnisse an die Absolventen vergeben sind, wird die Privatschule in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde damit auch endlich die staatliche Anerkennung als Gymnasium bekommen, die es erst nach einem kompletten Jahrgangs-Durchlauf gibt.

1993 hat sie als erste wieder gegründete jüdische Oberschule mit Realschule und Gymnasium in Deutschland den Lehrbetrieb aufgenommen - zunächst nur in drei Räumen, während drumherum noch renoviert wurde. Bis 1942 hatte sich in dem Haus in der Großen Hamburger Straße in Mitte die Jüdische Knabenschule befunden; zu DDR-Zeiten eine Berufsschule. Man beruft sich heute auf die Tradition der von Moses Mendelsohn gegründeten Lehranstalt in Berlin, die für Schüler aller Weltanschauungen offen stand. Und so ist nicht nur etwa ein Drittel der heute insgesamt etwa 250 Oberschüler christlicher Herkunft, sondern auch Schulleiter Uwe Mull.

Bislang führte Mull, der zuvor Pädagogischer Koordinator an einer Schule in Reinickendorf war und sich vom Staatsdienst beurlauben ließ, den Titel Gründungsdirektor. Zu Beginn dieses Jahres wurde die Stelle des ordentlichen Schulleiters öffentlich ausgeschrieben. Mull hat sich daran beteiligt, und tatsächlich wird er zumindestens für ein weiteres Jahr Direktor der Schule sein. "Es reicht für diese Position nicht aus, wenn jemand nur jüdisch ist", sagt der Schuldezernent der Jüdischen Gemeinde, Moishe Waks. Und unter all den Bewerbern habe man Mull eben wegen seiner bewiesenen Fähigkeiten den Vorrang gegeben.

Der vor 49 Jahren in Salzgitter geborene Mull ist evangelischer Christ - "so richtig mit gelegentlichem Kirchgang und so". Durch die Freundschaft zu einer jüdischen Familie angeregt, schickte er seine Tochter zu Beginn der neunziger Jahre auf die jüdische Vor- und schließlich Grundschule in Charlottenburg. In diese Zeit fiel der Entschluss der Gemeinde, die Oberschule wieder zu eröffnen. Mull wirkte an dem Konzept mit, und schließlich wurde ihm die Stelle als Gründungsdirektor angetragen. Die pädagogische Herausforderung sei an diesem Amt reizvoll, sagt er. "Es ist bei weitem noch keine in festen Schienen eingefahrene Situation - und wird es wohl in den nächsten fünf Jahren auch noch nicht sein." Der Umstand, dass er als Christ in einer jüdischen Einrichtung arbeitet, ist für ihn mittlerweile zur alltägliche Selbstverständlichkeit geworden. Ein rein jüdischer Lehrkörper - derzeit besteht er nur zu etwa 50 Prozent aus Juden - sei schon wegen der Tradition der offenen Schule nicht gefragt, sagt Mull. Er versteht jedoch seine Aufgabe in erster Linie als die eines "technischen Direktors, der die Dinge zum Laufen bringt". Und so ist in der Schulkonzeption eine Art Doppelspitze für die Schulleitung vorgesehen, eine zweite Person, die für die spezifisch jüdischen Belange zuständig wäre. Bislang versieht die Hebräisch-Lehrerin der Schule schon inoffiziell dieses Amt als Ansprechpartnerin für die Schüler. Die Gemeinde sucht weiterhin nach Kandidaten.

Es hat lange gedauert, bis Lehrkräfte gefunden wurden, die berechtigt sind, Jüdische Religionslehre als prüfungsrelevantes Fach zu unterrichten, und deshalb ist es auch erst im nächsten Jahr Gegenstand der Abiturprüfung. Ein Rahmenplan wurde mittlerweile vom Landesschulamt anerkannt. Für das zweite zusätzliche obligatorische Fach Hebräisch wurde ebenfalls schon ein Konzept eingereicht. Im ersten Abiturjahrgang gibt es allerdings nicht einmal eine Handvoll Schüler, die diese beiden Kurse freiwillig bis zum Ende belegt haben. Für das kommende Jahr erhofft sich die Schulleitung durch die Prüfungsrelevanz deutlich stärkeres Interesse.

Doch auch in den allgemeinbildenden Fächern sind die Lehrer angehalten, jüdische Themen einfließen zu lassen. So werden im Englischunterricht beispielsweise bevorzugt jüdische amerikanische Autoren gelesen. Dabei sei Fingerspitzengefühl gefragt, sagt Mull, dann gehe es selbst in Mathematik - etwa, wenn sich Aufgaben in der Prozentrechnung auf Chanukka- statt Weihnachtsrezepte beziehen.

Mull versteht die Schule als "ein Mosaiksteinchen in der bunten Berliner Schullandschaft". Auch wenn er meint, dass sie sich wohl erst mit dem dritten Abiturjahrgang richtig etabliert haben wird - nämlich wenn der erste Leistungskurs in Jüdischer Religionslehre seine Prüfungen in dem Fach ablegt. Und Schuldezernent Waks glaubt, dass die Schule noch "sehr, sehr lange Zeit" etwas Besonderes sein wird - so wie es auch in dem Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland noch lange Zeit keine Normalität geben werde. Er sieht die Aufgabe der Schule darin, die Jugendlichen der Gemeinde bei ihrer Identitätsfindung als Juden zu unterstützen und sie in praktisch gelebtem Judentum zu unterweisen. Dennoch freue man sich natürlich über das Interesse von Schülern aus christlichen Familien. Immerhin sechs der 19 Abiturienten kommen aus nichtjüdischen Familien.

Auch die Umgebung der Schule in der Großen Hamburger Straße könnte symbolisch für eine zukünftige Normalität im christlich-jüdischen Zusammenleben stehen: Das Gebäude grenzt an die evangelische Sophiengemeinde, die sich seit den sechziger Jahren um den christlich-jüdischen Dialog bemüht. Verletzt sich einmal ein Schüler, wird er nur einen Block weiter in das katholische St. Hedwigs-Krankenhaus gebracht.

Alexander Pajevic

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false