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Michael Gitter war Schauspieler in der DDR und unterrichtet heute Theater in Berlin.

© René Jaschke

DDR-Schauspieler: „Kreativität ist ein Ersatz von Freiheit“

Vom Drucker mit verschmierten Händen zum anerkannten DDR-Schauspieler. Das ist die Geschichte von Michael Gitter – Die Geschichte eines Querkopfs.

Zwickau. Ein Wintertag in den 60er Jahren. Eisiges Schneetreiben. Ein Mann schlurft auf einen hohen Holzmasten zu. Die Telefonleitung ist kaputt, er wird sie reparieren, wie immer. Seinen Kindern sagt er: Wenn ihr in der Schule nicht aufpasst, dann müsst ihr dieselbe Arbeit machen wie ich. Sommer wie Winter, hoch und runter. Das war nichts für den kleinen Michael, der lieber tanzte und Komiker imitierte. Heute sitzt er in seiner Wohnung in Zehlendorf und erzählt seine Geschichte.

Michaels Eltern waren 17, als er geboren wurde. Wach und lebensfroh seien sie gewesen. In Zwickau hatte man seinen Kreis, in dem man sich auskannte, in dem man sich wohlfühlte. In der Schule wurde sehr schnell erkannt, wo die Stärken der Schüler liegen. Diese Talente wurden gefördert. Kaderschule. Michael war künstlerisch begabt und kam daher in den Zeichenzirkel. „Für die Jüngeren war das sehr gut. Im Sommer Ferienlager, rund um die Uhr mit anderen Leuten zusammen. Das schafft Zusammenhalt.“ Als er mal besonders gut in der Schule war, bekam er mit einem Mitschüler eine Reise in die Tschechoslowakei geschenkt. „Das war total irre.“

Dann bekam er sein erstes Pionierhalstuch. Als seine Haare länger wurden, warf er sich sein FDJ-Hemd nur noch zum Fahnenappell über. In der Schule hängte er sich rein, um später nicht auf die Masten klettern zu müssen, Abitur konnte er trotzdem nicht machen. In jeder Klasse wurde nur ein bestimmtes Kontingent zugelassen, in seiner Parallelklasse hätte er mit dem gleichen Schnitt aufs Gymnasium gehen können. Einmal saß er nachts am Fenster und schaute auf die Industriestadt. Fernweh. Hier wollte er nicht alt werden. In Zwickau war alles so eng.

Bis die Maschinen kaputt waren

Nach der 10. Klasse beendete er die Schule, über Bekannte bekam er einen Ausbildungsplatz zum Drucker. Sein Vater meinte: „Micha, mach das nicht. Du und Maschinen, das geht nicht zusammen.“ Micha hat sich durchgesetzt. Mit 20 steht er hinter der Druckmaschine, Akkordarbeit, Frühschicht von 6:15 Uhr bis 14:09 Uhr. Spätschicht: 15:09 Uhr bis 23:03 Uhr. Wie es zu den Arbeitszeiten kam? „Keine Ahnung“, sagt er. Das Papier hatte eine miserable Qualität, ständig waren die Maschinen kaputt. „Außer der Verlag der NVA, der hatte tolles Papier“, sagt er und lacht. „Manchmal habe ich mit Absicht die Papierbögen in die Maschine gejagt, bis sie kaputt war. Dann konntest du in der Zeit Bücher einpacken.“

Im Sommer saß er mit voll geschmierten Händen auf einem Hang hinter der Fabrik und dachte: Mein Leben ist zu Ende. Unter der Woche schuften, am Wochenende ging’s in die Diskothek und zum Fußball, um die Woche zu vergessen. Er fing an zu Rauchen. Einer seiner Freunde sagte zu ihm: „Ich kenn jemanden, der ist Kulissenschieber am Stadttheater. Frag doch da mal“.

"Alles roch nach Theater"

Von Theater hatte er damals keine Ahnung. „Ich bin nicht in solchen Kreisen aufgewachsen“, sagt er. „Meine Eltern konnten zum Beispiel nicht schwimmen. Ergo kann ich heute auch noch nicht schwimmen.“ Genau so war es mit Kunst. Er wurde nicht rangeführt.

Dann der erste Tag am Theater. Ein junger Mann begrüßt ihn und sagt: „Wir gehen jetzt erstmal frühstücken“. In der Theaterkantine sprangen Leute vom Chor herum, geschminkt und in barocken Kleidern. Für Michael eine andere Welt. Später wurde ihm gezeigt, wie man den Vorhang einhängt, und dann riefen alle: Pause! Sie gingen in die Stadt, einige tranken Bier. Die Pause dauerte erst eine, dann zwei Stunden. Dann sind sie zurück ins Theater, und dann war Feierabend. „Abends habe ich geheult. Die Ketten, dich mich vorher festhielten, waren weg. Ich war frei.“

Das Theater wurde sein Lebensmittelpunkt. Bei Aufführungen mussten sich immer ein paar Bühnentechniker Kostüme überziehen. Dann kam auch mal ein Sätzchen dazu. „Einmal stand ich in der Gasse, „Cabaret“, alles roch nach Theater, die verschmelzenden Kunstgattungen, diese familiären Menschen, das hat mich verschluckt.“

"Spiel den Bösewicht nie als Bösewicht, spiele ihn liebevoll" - Schauspieler in der DDR

Michael Gitter war Schauspieler in der DDR und unterrichtet heute Theater in Berlin.
Michael Gitter war Schauspieler in der DDR und unterrichtet heute Theater in Berlin.

© René Jaschke

Michael veränderte sich. Erst kam ein Ohrring, dann schnitt er sich einen Igel. Das FDJ-Hemd spielte schon lange keine Rolle mehr. Mit 21 dann die Entscheidung: Michael will Schauspieler werden. Über Kunst, Kultur und Sport konnte man in der DDR viel erreichen. Auch Grenzen überschreiten. Schauspieler vom Deutschen Theater gastierten in der Bundesrepublik. Freiheit. „Du konntest ein Kostüm anziehen und Schillers Räuber spielen. Du konntest Stücke spielen, in denen du deinem Unmut Luft machst“, sagt er.

Eine Regisseurin vom Stadttheater Zwickau half ihm bei der Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule. „Ich war einfach nicht belesen“, sagt er. „Dafür war ich damals schon unglaublich wach. Ich kann in Leute hineingucken, wie sie sich gebärden, wie sie atmen, wie sie denken.“ Die Aufnahmeprüfung in Leipzig bestand er dennoch nicht. Mit 23 musste er für anderthalb Jahre zur Armee nach Karl-Marx-Stadt. Mit 24 Jahren fuhr er zum Vorsprechen an die Ernst-Busch in Rostock, seine letzte Chance. „Der Druck war unbeschreiblich.“ Aber er wurde angenommen.

"Du wirst das Schiff nie erreichen"

Schauspielschule - und dann noch in Rostock, weit weg von seiner alten Heimat. Er schwärmt. „Während meines Studiums war ich am Wochenende regelmäßig bis drei Uhr nachts tanzen, bin dann nach Warnemünde gefahren, nackt Baden, dann am Strand gepennt. Wenn du morgens aufwachtest, sahst du ein großes Schiff nach Gedser, Dänemark abfahren. Das Schiff hatte hinten eine große Klappe für LKWs und Autos. So fuhr das Schiff dann los, mit offener Klappe. Während wir dem Schiff nachblickten, haben sie langsam die Klappe geschlossen. Aber du wusstest, dieses Schiff wirst du nie erreichen in deinem Leben. Nie. Keine Chance. Du sitzt mit 25 da, bist glücklich und denkst trotzdem, das war´s.“ Die ersten drei Semester ging es noch gut, aber Gitter ist auch ein bequemer Mensch. „Den Druck der Dozenten habe ich als unangenehm empfunden und mich dann verweigert - außer das Spielen machte mir Spaß“. Dann wurde er rausgeschmissen. „Ich bin durch die Stadt geirrt, wollte nicht weg.“ Die Dozenten schickten ihn ans Landestheater in Parchim. Sie meinten, Praxis würde ihm mehr bringen. Er spielte und durfte sich ausprobieren, Schauspiel, leichte Operette, Singen, Tanzen. Und er hat Geld verdient. „In Parchim spielten viele, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten“, sagt er. „Da es kein Berufsverbot gab, wurden sie in die Provinztheater abgeschoben“.

„Man kann auf die Bühne kacken und keinen juckt’s.“

Dann fiel die Mauer. Michael Gitter stolperte in ein vollkommen anderes Gesellschaftssystem. Das Leben änderte sich von einem auf den anderen Tag. Im Westen war alles bunt, man konnte alles machen. „Aber wenn du kein Geld hast, nützt dir das alles nichts“, sagt er. Dinge, die in der DDR keine Rolle spielten, nahmen plötzlich viel Platz ein. Sich ernähren, wohnen, leben und überleben. „Dem fällt die Kreativität zum Opfer“, sagt er. Man macht Dinge, die man vielleicht früher abgelehnt hätte: Mist drehen, Fernsehscheiß oder jeden Rotz am Theater annehmen. „Man kann auf die Bühne kacken und keinen juckt’s.“

Er ging nach Österreich ans Theater, es gab viel Geld. Mit den Kollegen aus dem Westen kam er nicht klar. „Die hatten einen ganz anderen Standard“, sagt er. Schauspielerei sei die einzige Gattung gewesen, in der sie den Wessis überlegen waren. Einer spielte den Wurm aus „Kabale und Liebe“. Er spielte ihn böse. In der DDR lernte Gitter: Spiel den Bösewicht nie als Bösewicht, spiele ihn liebevoll.

Ernüchterung? Ist das Freiheit? „Nein, für mich war es ja schon Freiheit, aus Sachsen weggekommen zu sein“, sagt er und lacht. Einen Tag nach der Währungsunion fuhr er mit einem Trabbi nach Griechenland. Dann arbeitete er viele Jahre an verschiedenen Bühnen, in Graz, Klagenfurt, Linz, an der Schaubühne, am Deutschen Theater, Maxim Gorki, Hans Otto.

Als das Herz nicht mehr mitmachte, entschied sich Michael Gitter für einen anderen beruflichen Weg. Heute unterrichtet er junge Schauspieler in seinem Verein „Winternachtstraum“ in Berlin. „Das ist ein großes Geschenk für mich“, sagt er. Auf jeden Fall besser, als Sommer wie Winter auf Telefonmasten zu klettern.

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Simon Grothe

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