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Justiz: Fünf Schwerverbrecher könnten bald frei sein

Das Straßburger Urteil zur Sicherungsverwahrung setzt Berlins Justiz unter Druck: Nach Ansicht der EU-Richter sitzen Häftlinge ohne Rechtsgrundlage in Tegel.

Wenn Alkohol im Knast erlaubt wäre, würden in Tegel jetzt die Sektkorken knallen. Das am Donnerstag ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) könnte fünf teilweise seit Jahrzehnten einsitzenden Männern die Freiheit bringen. Der Gerichtshof hatte die Bundesrepublik Deutschland zur Freilassung eines 52-jährigen Häftlings und Zahlung von 50 000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Der Mann sitzt im hessischen Schwalmstadt trotz verbüßter Haftstrafe seit 18 Jahren in Sicherungsverwahrung, weil er immer noch als gefährlich gilt. Die Sicherungsverwahrung verstoße gegen den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“, da 1986 zum Zeitpunkt der Verurteilung die Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt war. Diese zeitliche Begrenzung der Sicherungsverwahrung wurde in Deutschland erst 1998 aufgehoben.

In Tegel sitzen derzeit 37 Männer in Sicherungsverwahrung – fünf von ihnen schon vor 1998. Sie alle müssten freikommen, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Doch das Bundesjustizministerium will das Urteil in der nächsten Instanz anfechten. Das Ministerium verwies darauf, dass auch künftig der „Schutz der Bevölkerung vor notorisch gefährlichen Straftätern“ sichergestellt sein müsse. In Justiz- und Polizeikreisen hieß es, dass es der Bevölkerung nicht vermittelbar wäre, wenn jetzt fünf Straftäter auf einmal freigelassen werden müssten.

Alle fünf Sicherungsverwahrten, die in Tegel sitzen, gelten als gefährlich. Sie werden, wie vorgeschrieben, regelmäßig begutachtet. Ist die Prognose negativ, verlängert sich die Haft nach der Haft – keiner der Häftlinge weiß, ob oder wann er wieder freikommt. Genau dies kritisiert auch der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil: Es gebe in Deutschland „keine ausreichende psychologische Betreuung“ für Sicherungsverwahrte, heißt es im Urteil. Die Richter berufen sich dabei auf ein Gutachten, das das „Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Strafe“ erstellt hatte – und zwar nach einem Besuch in der JVA Tegel. Dieser hatte Ende 2005 stattgefunden – zur Freude der Inhaftierten. Sie erhofften sich Unterstützung bei ihrer Forderung nach mehr Betreuung und Hilfe in der Sicherungsverwahrung. Denn weil es keinen Termin für ein Haftende gebe, herrsche absolute Frustration und Resignation auf der Station. Wie berichtet, kritisieren die Häftlinge, dass man „nur als toter Mann eine Chance habe, Tegel zu verlassen“.

Nach der Kritik des Komitees hatte sich die Haftanstalt Tegel darangemacht, „neue Beschäftigungs- und Betreuungsangebote zur Motivation der Sicherungsverwahrten“ zu erstellen. Die Anstaltsleitung hat dieses Konzept vor Monaten fertiggestellt, seitdem liegt es in der Justizverwaltung. Der Grund ist ganz einfach – es fehlt das Geld. Denn in dem Konzept werden unter anderem mehr Stellen für die Betreuung der Sicherungsverwahrten gefordert.

Derzeit steigt die Zahl der Männer in Sicherungsverwahrung. Vor einem Monat waren es 35, derzeit sind es 37. Ende 2010 sollen es bereits 55 sein. Derzeit sitzen in Tegel über 50 Häftlinge, denen die Sicherungsverwahrung noch bevorsteht, darunter sind so bekannte Namen wie der Serienmörder Thomas Rung oder der Busentführer Dieter Wurm. Die Zahl steigt an, weil Gerichte immer häufiger die Haft nach der Haft verhängen.

Und die kann viel länger dauern als die eigentliche Strafhaft. Einer von den fünf Kandidaten für eine Freilassung ist Wilhelm S. (Name geändert). 1991 war er zu drei Jahren verurteilt worden, seit Juli 1994 sitzt er in Sicherungsverwahrung. Obwohl S. als integriert und willig gilt, zum Beispiel in der Theater-Gruppe mitarbeitet, ist die Prognose immer negativ gewesen. S. gilt weiterhin als „gefährlich“, ebenso wie der fast 70-jährige Jürgen B., der seit 40 Jahren in Tegel sitzt.

Offiziell heißt es zu dem brisanten Thema in der Berliner Justizverwaltung lediglich, dass die Bundesregierung das Urteil des Europäischen Gerichtshofes ohnehin anfechten werde. Mit Schrecken erinnert sich die Justiz an das Jahr 2007, als es Dietmar J. gelungen war, sich aus der Sicherungsverwahrung herauszuklagen. Dies hatte damals Justizsenatorin Gisela von der Aue in Bedrängnis gebracht. J. verbrachte fast ein Jahr in Freiheit, bis das Gericht seinen Beschluss revidierte und er wieder ins Gefängnis musste.

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