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Kältewelle: Berlins Obdachlose in Not

Immer mehr Menschen leben in verdeckter Obdachlosigkeit, in Notunterkünften. In diesem harten Winter geraten sie besonders in Not – so wie Miriam.

Weiblich, geschieden, obdachlos. Geben wir ihr den Namen Miriam. Wie das Mädchen aus der gleichnamigen Erzählung von Truman Capote, der gerne über Außenseiter und Gestrauchelte schrieb. Miriam wohnt in der begrünten Ecke vor dem Standesamt in Alt-Lietzow. Dort lagert sie ihr Hab und Gut in zwei Einkaufswagen, die sie mit Planen abgedeckt hat, damit der Schnee ihre Sachen nicht aufweicht wie die Turnschuhe, die sie trägt.

Es ist 18.30 Uhr. Der Kältebus des Deutschen Roten Kreuzes hält, drinnen sitzt das Team Hartmut Engel und Tanja Winkler. Die Sozialarbeit-Studentin reibt sich die frierenden Hände. Dreimal die Woche ist sie von 18 bis 24 Uhr im Kältebus auf Tour. Miriam ist ihre erste Station. Die 30-Jährige füllt Tee in einen Becher, heißer Dampf steigt auf. Es hat minus sieben Grad. Miriam steht in ihrer Wohnecke mit drei Wollmützen auf dem Kopf. Sie trägt keine Handschuhe.

Wohnungslosen wie Miriam, die mit ihrem Einkaufswagen durch die Straßen zieht, wird im Sommer wenig freundliche Beachtung geschenkt. „Ich werde nicht selten mit Müll beworfen und als Pennerin beschimpft, als ob ich nichts wert bin“, sagt sie. Im Winter ist das anders: Da erweckt Miriam bei Minusgraden Mitleid. Nur die Berührungsängste, die bleiben bei den meisten.

Miriam hat keine. In ihrer offenen Art strahlt sie Wärme aus, spricht fröhlich und schnell. „Normalerweise reden solche wie Ihr gar nicht mit mir. Da kommen immer nur irgendwelche Drogenabhängigen, die sagen ‚du bist süß'' und mich bumsen wollen.“ Deswegen will sie in keiner Notunterkunft übernachten, schläft lieber draußen im Park. Sie trägt Leggings, mehrere Jacken übereinander, einen Pullover um den Hals. „Mir ist kalt“, sagt sie. Heute Abend wird sie wieder auf dem vereisten Boden im Gebüsch einen Schirm aufspannen und die Füße in einen Schlafsack packen. Ihren zweiten Tee trinkt Miriam am DRK-Bus, während sie die Schuhe mit den dicken Sohlen anzieht, die Tanja ihr mitgebracht hat. Beim Reden überspielt sie traurige Details mit einem verhaltenen Lächeln. Zum Beispiel, dass sie Mutter zweier Kinder ist und die beiden nicht mehr gesehen hat, seit sie klein waren. Dass sie keinen Kontakt zu ihren Eltern hat, die nichts von ihrem Leben wissen. In ihrem alten Leben hat Miriam 13 Jahre als Industrienäherin im Akkord gearbeitet, später einen Mann aus Ghana geheiratet und mit ihm Kinder bekommen. 1994 dann die Scheidung und der Verlust der Kinder. Der erste Bruch.

Es folgte die zweite Ehe mit einem Mann, der ein paar Jahre später in der gemeinsamen Wohnung verstirbt. Der zweite Bruch. Miriam kommt bei einem Bekannten unter, der die Miete nicht bezahlt. Sie hat keine Rücklagen und arbeitet nicht mehr. Das soziale Netz fängt sie nicht mehr auf, weil sie selbst sich nicht mehr halten kann. Es müsste das Jahr 2003 gewesen sein, in dem sie auf der Straße landet. Tanja wird später sagen, dass Miriam ein Mensch ist, der sich im Leben viel zurückgestellt hat, sich selbst nicht so wichtig nimmt.

Miriam ist ein Einzelschicksal, aber kein Einzelfall. Arbeitslosigkeit, Verlust eines nahestehenden Menschen, eine lange Krankheit physisch oder psychisch, ein Unfall, Alkohol- oder Drogenmissbrauch – was folgt ist oftmals die Schuldenfalle, die Scheidung, der Verlust der Kinder, eine Kette von Ereignissen, die oft in auswegsloser Isolation, alleingelassen im Schatten der Gesellschaft endet, für manche in der Obdachlosigkeit.

„Nicht selten sind der Grund Beziehungsbrüche, die nicht verarbeitet wurden, weil man nicht gelernt hat, darüber zu sprechen. Plötzlich kippt alles, weil der Lebenssinn verloren geht und Materielles wertlos erscheint“, sagt der Direktor der Berliner Stadtmission Hans- Georg Filker. Wenn dann der innerliche Halt fehle und andere einen meiden, sei die Gefahr groß, sich zu verlieren. „Das ist auch der Grund, warum viele aus der Isolation der Wohnungslosigkeit so schwer wieder herauskommen. Sie verstummen und reduzieren ihr Leben auf Essen, Trinken und irgendwo unterkommen.“

Es ist 21 Uhr. Ortswechsel in die Notunterkunft der Stadtmission in der Lehrter Straße. Die Türen zu einem Nachtlager und einer warmen Suppe öffnen sich. 70 Prozent der Obdachlosen hier sind Stammgäste, sagt Christina Zimmermann, Mitarbeiterin der Notunterkunft. Bevor es rein geht, werden an der Tür im Tausch gegen eine Nummer die persönlichen Sachen abgeben. Später wird es in der dicht gedrängten Reihe vor der Tür eine Schlägerei geben und das Blut auf der Treppe kleben. Es sind hauptsächlich Männer, die in den großen Saal strömen. Einer torkelt durch den Raum, ein anderer wechselt sich in der Ecke die Hose. Männer sitzen einzeln am Tisch und schieben sich das Essen schnell in den Mund. Es riecht nach Würstchen-Eintopf und einer Brise Alkohol. Raue Töne, als zwei Männer zusammenstoßen. Ein Mann im Rollstuhl ohne Beine wird von einem anderen in den Raum geschoben. Sie sprechen Polnisch.

Die Zahl osteuropäischer Obdachloser ist in den letzten Jahren gestiegen. Körperlich seien die ausländischen Obdachlosen viel schlimmer dran als die deutschen, weil sie kaum Chancen auf eine medizinische Versorgung hätten, sagt Christina Zimmermann. Etwa 150 Obdachlose kampieren täglich in der Notunterkunft. Platz ist eigentlich nur für 60. Einen Aufnahmestopp gibt es nicht. „Die Alternative für uns ist, dass wir jemanden draußen lassen müssen, der vielleicht erfriert“, sagt Ortrud Wohlwend, Öffentlichkeitsreferentin der Notunterkunft. Die meisten Männer und wenigen Frauen im Raum entsprechen nicht dem Klischee: heruntergekommen und ungepflegt. „Die durchs soziale Netz fallen, nehmen wir oft gar nicht wahr“, sagt Filker. Der größere Teil schämt sich wegen seiner Lage und lebt in verdeckter Obdachlosigkeit – in einer Notunterkunft oder irgendwo versteckt.

So wie Martin. Der 29-Jährige kommt seit fünf Jahren in die Notunterkunft, schläft immer in derselben Ecke auf einer Bank, weil er sich im Schlafsaal vor ein paar Jahren einmal Läuse geholt hat. Seit 12 Jahren ist der 29-Jährige drogenabhängig. Fast so lange lebt er auch schon auf der Straße. „Im Heim hat es mit den Drogen unter Gruppenzwang angefangen“, sagt er. Schon oft habe er versucht aufzuhören, sei aber immer wieder rückfällig geworden. Gerade plagt ihn ein Abszess in der Leiste. „Der muss morgen raus, sonst ist in einem Monat mein Bein ab.“

Kältebus und Notunterkunft sind die erste Hilfe für Obdachlose im Winter: „Aber wer hilft dem Menschen langfristig, wieder stabile Beziehungen aufzubauen und zu halten?“ fragt Filker. Darum geht es: Warum bist du so geworden und wo möchtest Du eigentlich hin?

Miriam hat die Antwort auf diese Fragen noch nicht gefunden. Tanjas Zuwendung, die nicht von oben herab kommt, ist genau das, was Miriam braucht. „Bindest Du mir die Schuhe?“ fragt Miriam sie. Tanja zögert erst, weil sie kein Gefühl der Bevormundung vermitteln will. „Gerne“, sagt sie dann und bückt sich. Miriam lächelt, weil die Aufmerksamkeit ihr guttut. Die gehört nur ihr in diesem Moment.

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