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Berlin: Kampf dem Krampf

Die Hand wird steif, der Hals krumm, das Lid zuckt – das kann die Nervenkrankheit Dystonie sein. Manchmal hilft das Botox-Gift

Es kommt plötzlich, keiner weiß warum, und dann bleibt es. Bei dem New Yorker Pianisten Leon Fleisher waren es die Finger der rechten Hand, die immer steifer wurden, bei dem ehemaligen Bonner Journalisten Hans Georg Eilers waren es die Augenlider, die zu flattern anfingen.

Beide haben Dystonie. Das sind örtlich begrenzte Muskelverkrampfungen, die durch Nervenstörungen ausgelöst werden. Und beide haben ein Thema daraus gemacht. Denn man kann Dystonie lindern, man muss nur wissen, dass man sie hat. 165000 Menschen leiden Schätzungen zufolge an dystonischen Krankheiten, bei den Über-50-Jährigen zählen diese zu den „häufigsten behindernden Bewegungsstörungen überhaupt“, wie Professor Jörg Wissel von der Rehabilitationsklinik in Beelitz vorrechnet. Doch die große Mehrheit der Betroffenen ist ahnungslos.

Es gibt viele Krankheitsbilder: Beim einen zuckt das Lid, beim anderen versagt die Stimme, verrenken sich der Hals oder die Finger (s. Kasten rechts), das macht die Diagnose schwer. Oft werde etwas Psychisches als Ursache angenommen, sagt Eilers. „Die Kranken denken, sie haben einen Knacks“, weil etwas an ihnen außer Kontrolle geraten ist.

Was Medikamente leisten können, hat Leon Fleisher am Wochenende vorgeführt. Der 76-Jährige hat in der Berliner Philharmonie drei Konzerte gegeben – zwar nur für die linke Hand, aber das lag am Werk. Er spielt wieder mit beiden. Und das, nachdem seine rechte Hand 30 Jahre lang zur Faust zusammengerollt war, die er nur mühsam öffnen konnte, „es hat nicht weh getan“, sagt er, aber an Klavierspielen war nicht zu denken. Jetzt hilft ihm Botulinum-Toxin. Das Nervengift wird alle paar Monate genau an der Stelle in den Unterarm gespritzt, wo zu viele Bewegungsimpulse aus dem Gehirn von den Nerven an die Muskeln übertragen werden. Sie werden gestoppt und damit vorübergehend auch die dauernde Verkrampfung. Botulinum-Toxin war als „Botox“ kurzzeitig in aller Munde: als das Mittel, mit dem man Falten glätten kann.

Der Journalist Eilers ist 1988 fast gegen einen Baum gerannt, weil er kurzzeitig nichts gesehen hat. Ununterbrochen zwinkern seitdem die Augen, auf der Straße rempelt er manchmal Menschen an, weil er plötzlich nicht mehr sieht, wo er lang geht. Er hat einen Lidkrampf.

Seit 1993 ist er in der Deutschen Dystonie Gesellschaft (DDG) aktiv, die heute 1500 Mitglieder hat, darunter auch Eltern, deren Kinder wegen Dystonie im Rollstuhl sitzen. Eilers hat es auch mit Botox versucht, je sieben Spritzen rund um die Augen, es hat nicht geholfen. Jetzt ist der 77-Jährige rühriger Lobbyist, von Hamburg aus bringt er DDG-Hefte raus, spricht bei der Gesundheitsministerin vor, kümmert sich um Schwerbehindertenausweisanträge oder Reha-Plätze. Gerade war er in Beelitz bei Wissel. Dort werden Entspannungsmethoden vermittelt.

Auch Wissel stellt fest, dass es keine ursächliche Behandlung gibt. Fleishers Dystonie wird auch Musiker- oder Schreibkrampf genannt, die entsteht meist bei Personen, die über Jahre die gleichen Bewegungen machen. Woher Lidkrampf oder Schiefhals rühren, ist unklar. Die einzige Sicherheit, die Eilers heute hat, ist: „Jeder Mensch kann jederzeit und in jedem Alter eine Dystonie bekommen.“

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