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Berlin: Karlheinz Schädlich (Geb. 1931)

Er forderte den Staat heraus, er spionierte für den Staat.

Er war der große Bruder. Er brachte dem kleinen Bruder das Schwimmen bei, zeigte ihm, wie ein Drachen fliegt, wie man mit einer Frau tanzt und wie leicht das Leben sein kann, wenn man es sich nicht zu schwer macht. So wurden beide klüger und älter, achteten einander und was aus ihnen geworden war. Der große, ein Historiker in der Akademie der Wissenschaften der DDR, der kleine, ein Schriftsteller, bekannt durch seinen Geheimdienstroman „Tallhover“.

Dann las der kleine Bruder, dass der große auch so ein Geheimdienstmann war, im echten Leben, dass er ihn verraten hatte, ihn und seine Schriftstellerfreunde, Sarah Kirsch, Jurek Becker, Günter Grass, dass alles gemeinsame Lachen und Schimpfen und Hoffen über viele Jahre einen doppelten Boden hatte, der große Bruder zwar ein lieber Mensch, aber auch ein falscher war. Der große Bruder fragte den kleinen um Rat, vielleicht zum ersten Mal. „Was soll ich jetzt tun?“

Karlheinz Schädlich rief einige seiner Opfer an und entschuldigte sich. Sonst gab es nichts zu tun. Hans-Joachim, der kleine Bruder, brach den Kontakt ab. Er wollte nicht mehr reden. Er kam auch nicht zur Beerdigung.

Sch. heißt er in den Stasi-Akten, das steht entweder für „Schäfer“, den Spitzel, oder für „Schädlich“, den bürgerlich gesinnten Freigeist mit der „negativen Haltung zur sozialistischen Ordnung in der DDR“. Bevor er Spitzel wurde, wurde er bespitzelt. Sch. hatte sich oft mit den Dissidenten Havemann und Biermann getroffen und Kontakte zu ausländischen Journalisten vermittelt. Er sympathisierte mit den Reformern in der Tschechoslowakei. Im August 1968 war er auf der Durchreise in den Urlaub in Prag angekommen, als die Panzer des Warschauer Pakts gerade den politischen Frühling niederwalzten. Er trug sich in Protestlisten ein. Zurück in Berlin ergriff er offen Partei für politische Häftlinge.

Er selbst blieb unbehelligt. Vielleicht ahnte er schon warum.

Im April 1975 war es soweit. Karlheinz Schädlich wurde IM. Stasi-Major Salatzki hatte sich auf das Werbungsgespräch gut vorbereitet. „Belastendes Material“ sollte notfalls die Verpflichtung befördern, aber Schädlich willigte ein, scheinbar freiwillig. Er kannte sich aus mit der Spionage. Die besten Agenten sind die Maulwürfe, die Doppelagenten.

Zum Beispiel Kim Philby. Auf die Spur des Journalisten, der für die Briten arbeitete, aber eigentlich für die Sowjets, hatte sich Schädlich gemacht. Er war ganz verrückt auf die Geschichte dieses Duzfreundes von Graham Greene. Er reiste nach Moskau, wo Philby seinen operativen Ruhestand genoss. Schädlichs Recherche hatte kaum begonnen, da war er schon entlarvt. Die russische Botschaft in Ost-Berlin rief in seinem Institut an. Schädlich wurde zurückgepfiffen.

Auch später schrieb er Zeitungsartikel über Spione im Zweiten Weltkrieg, nüchtern, gut recherchiert und mit einem leisen Beifall für die ungebundene, tolldreiste Lebensart der Protagonisten. Sein einziges Buch hat er den „Mitford- Sisters“ gewidmet, einer britischen Adelssippe, deren sechs schöne Töchter in den dreißiger Jahren die britische Klatschpresse mit Skandalen belieferten. Zwei Mitford- Töchter begeisterten sich für Hitler, zwei weitere wurden glühende Kommunistinnen. Unity Mitford zog sogar nach München, um dort mit dem Führer Händchen zu halten. Zeitweise galt sie als „First Lady“ und ärgste Widersacherin Eva Brauns.

Die Extravaganz und Leidenschaft der Adelsschwestern faszinierten Schädlich. Unity Mitford schockierte schon auf ihrem Debütball die englische Gesellschaft mit einer Ratte auf der Schulter. Schädlich fand das „fabelhaft“.

Er verehrte Großbritannien, das „Stammland aller Exzentrik“, kleidete sich selbst in englische Tweedsakkos, trug Burberry-Pullover, Mützen mit Karomuster und rauchte Pfeife. Die Fotos zeigen einen hochgewachsenen schlanken Mann mit großer dunkler Brille und leicht gewelltem Haar. Eine Erscheinung, die in der DDR auffiel. Das war ihm wichtig, denn die DDR war ihm zu klein, zu kleinkariert, zu doktrinär und humorlos. Sie hatte einfach keinen Stil.

In den Westen gegangen ist er trotzdem nicht. 1950 war er mal weg, für drei Monate. Dann kam er wieder, weil, so steht es in den Stasi-Akten, „in der BRD der Jugend keine entsprechenden Berufs- und Aufstiegschancen geboten würden.“

Er ging nach Berlin, ließ sich zum Lehrer ausbilden, unterrichtete Geschichte und Staatsbürgerkunde. Eine sichere Basis für eine Familiengründung, doch seine Ehe, 1960 geschlossen, hielt nach außen zehn, innen vielleicht fünf Jahre. Schädlich sprach selten über Persönliches, diesmal machte er eine Ausnahme: „Es war meine Schuld. Ich war ein Arschloch“, gestand er Jahre später.

In den sechziger Jahren wuchs auch seine Unzufriedenheit mit der DDR und ihren Verboten. Er fühlte sich stark genug für eine erste kleine Provokation. Es sollte eine Reise ins prowestliche Schweden werden, 1961, kurz vor dem Mauerbau. So etwas musste beantragt und gut begründet werden. Schädlich schrieb: zwecks Spaziergang am Mälarsee. Der Antrag wurde genehmigt.

Nach der Scheidung und seiner IM- Werbung testete Schädlich, was seine neue Rolle als Staatsspion für Freiheiten mit sich bringen würde. Er schimpfte auf „die Idioten“ aus der Partei, beleidigte Volkspolizisten und rühmte sich seiner Heldentaten im Freundeskreis. Er sei „schikaniert und geschlagen“ worden bei einem Polizeiverhör, erzählte er laut Akten. Die Stasileute waren erbost. Sie nahmen auch zur Kenntnis, dass er Leica-Kameras und Pelze in die DDR geschmuggelt hatte, um sein Gehalt aufzubessern. Wenn die Zöllner kontrollieren wollten, gab er sich als Stasi-Mann mit besonderen Befugnissen aus. Ein schwerer Fall von „Dekonspiration“.

Seine Leistungen als Spitzel ließen unterdessen zu wünschen übrig. Er sollte Berichte über die deutsch-deutschen Schriftstellertreffen in Ost-Berliner Wohnungen liefern, doch Schädlich entschuldigte sich jedes Mal. Wenn sein berühmter Bruder, inzwischen „in die BRD ausgereist“, ein neues Buch veröffentlichte, erfuhr der Führungsoffizier davon erst, wenn es erschienen war.

Die Stasi lud zur Aussprache, machte Druck, präsentierte die Folterwerkzeuge: seine Stelle an der Akademie. Schädlich konnte nicht mehr lavieren. Er besuchte Günter Grass in West-Berlin, arrangierte eine Lesung im Ostteil und lieferte Berichte über Grass‘ „unheilvolle Rolle“ in der ostdeutschen Literaturszene. Dafür erhielt IM Schäfer ein Jahr später die „Verdienstmedaille in Bronze“.

Das historische Institut in der Akademie der Wissenschaften der DDR war ein Ort, den man ungern verließ. Freie Zeiteinteilung, überdurchschnittliches Gehalt und hohes Ansehen. Man konnte unermüdlich forschen, musste es aber auch nicht übertreiben. Einmal in der Woche kam die Belegschaft zum „Institutstag“ zusammen. Schädlich war ein lebhafter Diskutant und akribischer Rechercheur. Die Zahl seiner Veröffentlichungen blieb indes überschaubar. Die Stasi behauptete, er habe eine laxe Arbeitseinstellung, viel Zeit für Privates abgezweigt, aber das klingt eher nach Verleumdung.

Karlheinz Schädlich wollte nicht nur trockene Wissenschaftsprosa verfassen, er schrieb feinsinnige Betrachtungen in der Modezeitschrift Sybille, der einzigen DDR-Modezeitschrift von Rang. Seine Artikel handelten vom „Matrosenstil“ oder klärten die Frage, wo das Schottenkaro seinen Ursprung nahm. Schädlich liebte klassische Kleidung wie klassische Literatur und klassische Musik.

Orthografische Schwächen, Stilmängel oder gar Recherchefehler rächte er mit tödlich spitzer Feder. Gefürchtet waren seine Leserbriefe unter dem Pseudonym „Peter Mortimer“. Sehr empfindlich auch sein Gehör. Jazz, Swing und Blues tolerierte er, aber nur die Klassiker. Trat im „Uncle Tom“, wo er einige Jahre verkehrte, eine Band auf, die seine Ohren beleidigte, bezahlte er sie fürs Aufhören. Er trank Bier und Korn, rauchte und las die Zeitung im Stehen.

Das Altern fürchtete er mehr als den Tod. Er wurde depressiv, verlor seinen Wortwitz, ging für ein paar Wochen in die Psychiatrie. Dann erschienen neue Enthüllungen über seine Rolle als „Grass-Spitzel“. Er fürchtete bei jedem Schritt vor die Tür, darauf angesprochen zu werden.

Auf einer Parkbank im Bötzowviertel schoss sich Karlheinz Schädlich im Dezember 2007 eine Kugel durch den Kopf. So hatte es auch Unity Mitford getan, das verrückte Hitler-Groupie, im Englischen Garten in München, am Tag, als England Deutschland den Krieg erklärte. Ein Selbstmord als historisches Zitat. Unity überlebte allerdings schwer verletzt. Thomas Loy

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