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Berlin: Karola Charlotte Emilie Wendling (Geb. 1921)

West-Berlin war der Nabel der Welt. Nach Mitte wollte sie nicht zurück.

Es war in Schöneberg, irgendwann in den Siebzigern. Karola Wendling lief mit ihrem Patensohn an einem Café vorbei, da zeigte der auf ein Schild im Fenster und sagte: „Da musst du hingehen. Zum Tantenball!“ Die Tante, ganz Frau von Welt, klärte ihn auf: „Da steht Tuntenball. Da dürfen nur Männer rein.“

Karola Wendling war die „Tante aus Berlin“, die Ansichtskarten zur Kieler Verwandtschaft schickte mit dem „Berliner Bären“ drauf, dem „Hohlen Zahn“ und dem „Langen Lulatsch“. Fotos von Karola bei der Grünen Woche, Karola am Reichstag, Postkarten von der Tante, die als Kind, als die Verwandtschaft aus der Provinz noch brave Zöpfe trug, schon einen modernen Bubikopf hatte.

Karola Wendling war in Mitte auf die Welt gekommen. Eine moderne Kleinfamilie, Mutter, Vater und Karola. Am Wochenende fuhr die Familie mit dem Auto in den Spreewald, in den Ferien zum Strand von Heiligendamm. Karola bekam Klavierunterricht, lernte Französisch, sie machte Abitur und wurde, wie es die Eltern erhofft hatten: das Gegenteil einer Hausfrau. Berufstätig und unfähig, ein einziges Gericht zu kochen. Auf einem alten Foto sieht man, wie sie mit einem Staubsauger die Terrasse reinigt.

Karola Wendling wurde MTA, Medizinisch-technische Assistentin. Ausgebildet an der „Staatlich Anerkannten Lehranstalt des Dr. Hans Gillmeister“ in der Friedrichstraße. Ein völlig neuer Frauenberuf, in einer Zeit, in der auf einmal Fachkräfte fehlten, um Röntgengeräte zu bedienen. Beinahe ein Fachstudium, Fotografie, Bakteriologie, Klinische Chemie. „Gillmeisen“ nannten sich die Schülerinnen des Dr. Gillmeister. Karola Wendling war stolz. Stolz wie Bolle.

Ihre erste Anstellung rettete ihr vielleicht das Leben. Denn in den letzten Kriegstagen arbeitete sie im Bunker des Polizeikrankenhauses in Mitte. Sie schob den großen Röntgenapparat durch die Räume und behandelte erst die deutschen und dann die russischen Soldaten. „Mir ist es gut ergangen.“ Das war das Einzige, was sie über Krieg, Befreiung und die Zeit im Bunker sagte. Mehr gab es nicht zu sagen, sagte sie.

Nach dem Krieg wurde Karola mehr denn je gebraucht. Mit ihrer Armbinde vom Roten Kreuz konnte sie unbehelligt durch die Trümmerberge von der Invalidenstraße nach Hause bis zum Nollendorfplatz laufen.

Bei der Tuberkulosevorsorgestelle im Rathaus Schöneberg fand sie eine neue Stelle. Sie wurde keine Trümmerfrau wie Mutter und Tante. Sie ging arbeiten. Wenn einer eine Wurst ergattern konnte, dann Karola.

Karola im Schöneberger Rathaus war ganz nah dran am Nachkriegsgeschehen. Die großen Berliner Bürgermeister, die Rede von John F. Kennedy, das große Regierungshaus – Karola immer mittendrin. „Wie sieht er denn aus, der Herr Kennedy?“, fragte die Kieler Verwandtschaft die moderne Tante. „Wie ist er denn so?“ Karola gefiel das.

Aber sie war eben auch die ewige Tante: Immer da, von allen hoch angesehen, alleinstehend und ohne Kinder. Es gab nie einen Mann in ihrem Leben. Freundschaften pflegte sie. Sehr innige Freundschaften mit Frauen. Die Männer ihrer besten Freundinnen, die konnte sie nie leiden.

Karola Wendling wurde auch die „Tante vom Rathaus Schöneberg“. Wollten Patenkinder sie besuchen, fragten sie im Foyer des Rathauses nur nach „der Tante“, und jeder wusste, wer gemeint war. Eine Kiezgröße, die am liebsten ins KaDeWe ging, und für die West-Berlin der Nabel der Welt war. Ihre Wartburgstraße. Der Antikmarkt auf dem Bahnhof Nollendorfplatz, wo heute wieder die U-Bahn fährt.

Mit dem Bus fuhr sie am 31. Oktober 1989 nach Glienicke, um an der Havel spazieren zu gehen. Auf der anderen Seite der Havel bellten die Wachhunde der DDR-Grenztruppen. Zehn Tage später fiel die Mauer. Karola aber wollte nicht zurück nach Mitte, nicht mal zum Gucken. Ihr Berlin war West-Berlin geworden.

Irgendwann zog Karola Wendling in den „Ruhesitz am Zoo“. Zwei Minuten zum Ku’damm, zum Europacenter, zum Nollendorfplatz. Welche Orte in Berlin sollte man sonst in seiner Nähe haben?

Dann schwanden ihre Erinnerungen, sie wurde dement. Wollte nicht mehr ins KaDeWe und keinen Schokoladenkuchen mehr dort essen. Als es mit ihr schon fast zu Ende ging, brachte ihr der Patensohn einmal das Parfum mit, das sie immer genutzt hatte. Er sprühte es auf ihr Handgelenk. „Riech mal, weißt du noch was das ist?“

„Natürlich!“ herrschte sie ihn an. Dann sagte sie den Werbespruch: „Nonchalance. Der Duft einer schönen Frau“. Da war sie noch einmal, ganz kurz, die große Tante aus der Weltstadt. Elena Senft

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