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Berlin: Katja Raue (Geb. 1970)

„Die Einzige, die uns nach der 12. das Du angeboten hat.“

W alter Raue sitzt in seinem Wohnzimmer. Hält in der Hand eine Fotografie. Auf der Straße unterhält sich der Briefträger mit jemandem. Die Müllmänner rollen die Tonnen über den Gehweg. „Seine Eltern verlieren, heißt die Vergangenheit verlieren. Seinen Partner verlieren, heißt die Gegenwart verlieren. Sein Kind verlieren, heißt die Zukunft verlieren.“ Walter Raue atmet tief, wendet den Kopf ab, verstummt. Schaut auf das Bild in seiner Hand: eine junge Frau, das blonde lange Haar von der Sonne beschienen, die Augen groß und blau und schön, die Stirn hoch und hell. Der Briefträger fährt weiter. Die Müllmänner schlagen die Türen ihres Wagens zu. Walter Raue legt das Foto vorsichtig auf seine Knie. Katja, seine Tochter, lebt nicht mehr.

Verwaist nennt man Kinder, die den Vater, die Mutter verloren haben. Verwitwet Menschen, deren Partner tot ist. Für Eltern, deren Kinder gestorben sind, gibt es in der deutschen Sprache kein Wort. „Ich weiß“, sagt Walter Raue, „sprechen Väter über ihre Töchter, loben sie sie oft über alle Maßen. Aber Katja war tatsächlich ein besonderer Mensch.“ Er zieht Seiten aus einem dicken Ordner, Briefe von Schülern an Katja, liest: „Frau Raue! Eine unserer jüngsten Lehrerinnen, immer munter, fröhlich. Die Einzige, die uns nach der 12. das Du angeboten hat. Die, bei der wir zum Essen eingeladen waren. Bei der wir bis in die Nacht geredet und gelacht haben. Im Kern noch ein junges Mädchen. Sie ist tot! Sie, die noch so lebendig in meinem Gedächtnis ist, ist tot.“

„Ja“, unterbricht eine Freundin von Katja, auch Lehrerin, „die Schüler verehrten Katja. Sie war glaubwürdig, sprach auch von sich, mit ihrer tiefen Stimme, und brachte so die Schüler zum Sprechen. Sie gab keine Anweisungen, sagte nicht, lest dieses Buch oder jenes, sondern fragte, was mögt ihr, worüber wollt ihr sprechen.“ Die Freundin lächelt: „Und still sitzen konnte sie nie. Betrat man das Lehrerzimmer, wusste man sofort, ob Katja da ist oder nicht.“

In dem Ordner auf dem Tisch stecken Katjas Zeugnisse, auch die aus der Grundschulzeit in Artern, Thüringen. Hinter jedem Fach steht eine Eins. Schon früh, mit sechs Jahren, liest sie Bücher, liebt es, Gedichte vorzutragen. 1979 geht die Familie nach Bagdad. Der Vater arbeitet dort. Katja schaut, staunt über die fremde Stadt, freundet sich an mit dem Nachbarsmädchen, einer Irakerin, sie sprechen ausschließlich englisch miteinander. 1981 der nächste Aufenthalt im Ausland, in Großbritannien. Dieses Mal kann Katja nicht mitkommen. Drei Jahre lebt sie bei den Großeltern in Auerstedt, einem Dorf mitten auf dem Land, die Zentralschule vor dem Haus, Felder, Wiesen, Apfelbäume dahinter. Ab und an besucht sie ihre Eltern. Die zeigen ihr den Tower, Loch Ness und Cornwall. Dann fährt Katja wieder nach Hause, zu den Freunden und Feldern und Apfelbäumen. Als Beste schließt sie die Schule ab, macht ihr Abitur in Berlin, studiert Anglistik und Germanistik, arbeitet in Schottland als Deutschlehrerin. 1995 wird Sasha geboren. Das Französische Gymnasium schreibt eine Stelle aus. 63 Bewerbungen gehen ein. Katja bekommt den Posten. Ist ausgelassen, bucht sofort eine Reise nach Clermont-Ferrand, nimmt an Sprachkursen teil. „So typisch war das für sie“, sagt Walter Raue, „immer ist Katja rege, unermüdlich, fleißig gewesen. Damals, nach dem Abi, fragte ich sie, was sie werden wolle. ‚Archivarin’, antwortete sie. Ich schüttelte den Kopf. ‚Katja, für diesen Beruf bist du doch viel zu unruhig.’“

Sie war nicht alt, nicht krank, nicht unglücklich. Hatte sich und Sasha ein Haus auf dem Land gekauft. Felder, Wiesen, Apfelbäume. Ihr Tod, ein Unfall, sinnlos. „Sie wollte immer einen Engel auf ihrem Grabstein“ sagt der Vater „wir werden ihr einen schenken.“ Tatjana Wulfert

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