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Berlin: Kein Zutritt für Fremde in Erich Mielkes Plattenbau-Idylle

Im Hochhaus an der Prendener Straße bricht unvermittelt Hektik aus, wenn ein Fremder um die Ecken schleicht. Ohne Gruß springt eine Frau in den Fahrstuhl, weil sie "gleich Besuch bekommt", ein mit Einkaufsbeuteln bestückter Herr eilt wortlos zur Straßenbahn.

Im Hochhaus an der Prendener Straße bricht unvermittelt Hektik aus, wenn ein Fremder um die Ecken schleicht. Ohne Gruß springt eine Frau in den Fahrstuhl, weil sie "gleich Besuch bekommt", ein mit Einkaufsbeuteln bestückter Herr eilt wortlos zur Straßenbahn. Auch in den beiden Geschäften am Fuße des Gebäudes - "Deres Hundesalon" und "Getränke Hoffmann" - hat man keine Zeit für neugierige Fragesteller. Ein Rentner mit blauer Jogginghose und weißem Unterhemd verliert sogar die Beherrschung angesichts überraschender Ruhestörungen. "Hauen Sie ab und hören Sie auf mit dem alten Quatsch!", schreit er. Grund der Aufregung ist der prominenteste Mieter des 16-stöckigen Plattenbaus, dessen frischer Anstrich in der Sonne glänzt. In der Zwei-Raum-Wohnung mit der Nummer 4.03 lebt der ehemalige Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke.

Der einstige Herr über 90 000 hauptamtliche und doppelt so viele inoffizielle Schnüffler stellte die ganze DDR unter Bewachung. Mit "feindlich-negativen Elementen" wollte der Armeegeneral am liebsten "kurzen Prozess" machen, wie er vor Kampfgenossen bekannte. Noch im letzten Jahr der DDR ließ er die Einrichtung von Internierungslagern für 85 939 oppositionelle und verdächtige Personen vorbereiten. Doch das Volk verjagte Mielke am 8. November 1989 aus dem SED-Politbüro, fünf Tage später verlachte ihn die Volkskammer für seinen hilflosen Ausspruch: "Aber ich liebe doch alle, alle Menschen."

Heute fristet der meistgehasste Mann Ostdeutschlands gemeinsam mit seiner Frau Gertrud ein Schattendasein in Hohenschönhausen. Geschlagen von schwerer Krankheit und vom Verlust seiner Macht lässt sich der Stasi-Chef nur selten blicken. Im Rollstuhl sitzend oder gestützt auf einen Bodyguard dreht er ein paar Runden um die Neubaublocks. Von frisch sanierten Wegen schweift sein Blick über künstlich angelegte und akribisch gepflegte Grünflächen. Ein Kinderspielplatz mit kleiner Holzbrücke und in Reihe gepflanzten Bäumen vermittelt die Illusion einer geordneten Welt. Hundekot gibt es hier nicht. Mielke, der zehn Jahre nach der Wende den Lauf der Dinge kaum begreift, hält sich an der Idylle fest.

Er sagt kein Wort, sein unnahbarer Begleiter auch nicht. "Mir tut der Mann leid", kommentiert Dina Lindner das Leben des 91-Jährigen. Seit zwei Jahren wohnt die gebürtige Moskauerin im Haus des ehemals gefürchteten Greises. Obwohl ihre Familie Opfer des kommunistischen Terrors in der Stalin-Ära wurde, verspürt sie keine Rachegelüste. Auch ein 68-jähriger Laborarzt empfindet Mitleid mit seinem Nachbarn: "Der gehört ins Pflegeheim." Vor einigen Wochen habe Mielke im Hauseingang um Hilfe gerufen, weil er Wahnvorstellungen hatte. Mielkes Sohn Frank, der einstmals mit Papa die Privilegien in der SED-Siedlung Wandlitz genoss, sei Internist. "Warum kümmert der sich nicht um seinen Vater?", fragt der sorgenvolle Nachbar.

Mielkes Umfeld sieht die Sache offenbar gelassener. Aktivisten vom "Solidaritätskomitee für Opfer politischer Verfolgung", die den Parteisoldaten seit dessen Haftentlassung 1995 regelmäßig besuchen, haben keine Angst um den Patienten. PDS-Mitglied Kurt Feske berichtet, dass die Lebensgeister des Stasi-Bosses "täglich aufs Neue erwachen". Mielke frage ständig nach der politischen Situation und wolle von den Besuchern wissen, was seine Richter so treiben. Schuldig fühle er sich nicht. Feske: "Diejenigen, die nach seiner Schuld fragen, sollten sich an die eigene Nase fassen."

Im Hochhaus scheinen alle diesen Rat zu befolgen. Ohne sich um den Nachbarn zu scheren, feilen die 120 Mietparteien täglich an einer heilen Welt. Auf den sterilen Fußbodenplatten im Hausflur findet sich kein Staubkorn, die mintfarbenen Wände sind frei von Graffiti. Werbeprospekte aus den Briefkästen landen in einem extra aufgestellten Blechcontainer oder im "Receyclingraum" auf der Rückseite des Hauses.

Auch in der vierten Etage hat alles seine Ordnung. Im Flur verweist ein überdimensionales Schild auf die Nottreppe, an einer Wohnungstür klebt ein Comic mit der Aufschrift "Zutritt verboten". Eine von sieben Etagennachbarn lobt die "netten Leute" von gegenüber. Der Klingelknopf mit der Aufschrift "Mielke" summt monoton. Langsam öffnet sich die Tür und eine alte Frau mit weißem Strickpullover lugt heraus. Gertrud erweist sich nicht als erzählfreudig. "Nee danke, wir nich, nee nee", stammelt sie und lässt den Reporter auf dem grauen Fußabtreter stehen. Die Tür mit dem zusätzlich eingebauten Sicherheitsschloss fällt wieder zu. "Ich habe ein komisches Gefühl, wenn der hier frei rumläuft", sagt Maria Magerl aus dem Hochhaus gegenüber. Statt sich Gedanken über vergangene Taten zu machen, würden die Mielkes über ihre niedrige Rente und die hohe Miete jammern. "Die leiden unter Verfolgungswahn", stellt eine andere Passantin fest.

Als das Haus saniert wurde, hätten Trudchen und Erich alle Fenster verbarrikadiert, damit kein Bauarbeiter konspirativen Einblick in die Wohnung nehmen konnte. Eigentlich, meint die 50-Jährige, gehöre ihr Nachbar ins Gefängnis. An Versuchen, Mielke auf Lebenszeit in den Knast zu sperren, hat es keineswegs gemangelt. Bereits im Dezember 1989 wurde er von der Volkspolizei festgenommen, um sich für Korruption und Amtsmissbrauch zu verantworten. Die Vorwürfe zielten unter anderem auf den millionenschweren Ausbau des Jagdschlosses Wolletz bei Angermünde. In Zusammenhang mit den Mauertoten wurde im Mai 1991 ein neuer Haftbefehl gegen Mielke verkündet. Wegen begrenzter Verhandlungsfähigkeit wurde sein Verfahren jedoch bald darauf abgetrennt, so dass nur ein Prozess in der "Mordsache Bülowplatz" übrig blieb. Nach Auffassung der Justiz hatte sich Mielke am 9. August 1931 auf dem Berliner Bülowplatz - dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz - aktiv am Mord zweier Berliner Polizisten beteiligt. Damals fielen vor dem Kino "Babylon" zehn tödliche Schüsse auf die Hauptleute Paul Anlauf und Fritz Lenk. Die darauf folgende Flucht in Richtung Belgien leitete Mielkes kommunistische Karriere ein. Der Berliner Arbeitersohn wirkte überall dort, wo ihn seine "geliebte Partei" hinstellte. Unter dem Decknamen "Paul Bach" verriet er Kommilitonen der Moskauer "Leninschule" an den sowjetischen Geheimdienst, im Spanischen Bürgerkrieg lieferte er als Kapitän "Fritz Leisner" abweichende Kommunisten ans Messer. In der DDR baute der Tschekist die Firma "Horch und Guck" auf, die er seit 1957 selbst anführte. Als skrupelloser Parteisoldat ließ er 180 Kilometer Akten mit Spitzelberichten vollschreiben und sammelte mehr als 200 Orden.

Heute verteilen sich Mielkes Andenken auf 64 Quadratmeter Wohnfläche. Im Sommer 1995, knapp zwei Jahre nach der Verurteilung wegen der Bülowplatz-Morde, kehrte der gebrechliche Greis nach Hohenschönhausen zurück. In seiner Plattenbau-Idylle scheint er - akzeptiert oder ignoriert von den Nachbarn - den richtigen Platz zum Sterben gefunden zu haben. Hier herrscht die Art von Sauberkeit und Ordnung, die Mielke der ostdeutschen Gesellschaft mit Gewalt aufzwingen wollte. Da wundert es nicht, dass im gebohnerten Hausflur eine Mitteilung hängt, die an alte Zeiten erinnert. Das Schreiben der Wohnungsbaugesellschaft verkündet die Installation einer Videoanlage im Eingangsbereich sowie die regelmäßige Hauskontrolle durch einen Wachdienst. Zusätzlich werden alle Mieter gebeten, aufmerksam zu beobachten, "was im Haus vor sich geht", und mit Hinweisen zu helfen, "Vorkommnisse zu vermeiden". Ziel der Maßnahmen sei, dass "kein Fremder unkontrolliert Zutritt erhält".

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