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Berlin: Keine Böller in Sibirien

In Brandenburgs stillstem Dorf käme heute niemand auf die Idee, selbst eine Knallerbse um Mitternacht zu werfen.

In diesem Ort knallen um Mitternacht keine Böller. Raketen steigen schon gar nicht in die Luft. Selbst eine Wunderkerze hält hier niemand um Mitternacht aus dem Fenster. Kein Bewohner tritt vor die Tür, um mit den Nachbarn auf den Jahreswechsel anzustoßen. Es ist so still, dass selbst das Werfen einer einzigen Knallerbse gegen die Hauswand die Menschen aufschrecken lassen würde. „Silvester ist es hier so ruhig wie immer“, meint Fred Behley aus der Waldstraße. „Da kommt niemand auf die Idee, ein Feuerwerk abzubrennen. Jeder bleibt in seiner Stube.“ Es gebe ja schließlich keine Kneipe, keinen Saal, keinen Laden, keine Kirche und keine Gemeindestube. Ganze 15 Einwohner zählt das Dorf noch, vor 20 Jahren waren es zehnmal so viele. Fast zwei Stunden dauert die Autofahrt aus Berlin bis zu diesem sonderbaren Ort, der einen nicht nur für Brandenburg höchst seltsamen Namen trägt: Sibirien.

Das Schild mit dieser Aufschrift hängt kurz vor den ersten Häusern in einem Baum. Es ist leicht eingebeult und fast schon in der Baumrinde eingewachsen. „Sibirien“ gilt als Ortsteil der Stadt Welzow in der Niederlausitz, unweit der Landsgrenze zwischen Brandenburg und Sachsen gelegen. Früher habe es mal richtige Ortseingangsschilder hier gegeben, erklärt eine Frau beim Fensterputzen. „Alles geklaut. Nur weil ‚Sibirien’ draufstand.“

Eigentlich müssten auswärtige Autofahrer durch das Schild „Sackgasse“ gewarnt werden. Denn kurz hinter dem letzten Haus geht die Straße in einen Waldweg über, der nach nur wenigen Metern an einer geschlossenen Schranke endet. Dahinter beginnt das Tagebaugelände Welzow-Süd, das nicht betreten werden darf. Die Mondlandschaft ohne Bäume und Sträucher mag auf den ersten Blick wie eine unwirtliche Gegend im Norden Sibiriens anmuten. Aber das erklärt noch längst nicht die sonderbare Ortsbezeichnung.

„Der Name ist schon mehr als 110 Jahre alt“, erzählt Fred Behley, der sein ganzes Leben hier im Dorf verbracht hat. Der 76-Jährige greift etwas ehrfurchtsvoll an die Mauer des viergeschossigen Wohnhauses. „Das Haus ist zusammen mit den anderen drei Gebäuden am Ende des 19. Jahrhunderts für die Bergleute im Tagebau entstanden“, erklärt der Rentner. „Für damalige Verhältnisse lag das neue Wohngebiet weitab vom Welzower Zentrum. Da haben die Städter die Bewohner oft scherzhaft gefragt, ob sie sich denn nun wieder auf den Weg nach Sibirien machen würden?“ Dabei sei es dann geblieben, auch als in den 1930er Jahren das Dorf durch die Eröffnung einer Brikettfabrik noch einmal größer wurde.

Zu DDR-Zeiten hätten sich viele Menschen sogar darum gerissen, in Sibirien zu wohnen, erinnert sich Fred Behley. Das lag vor allem am Anbau von Bädern an die alten Grubenhäuser, womit der Gang über den Hof zur Toilette endlich der Vergangenheit angehörte. Vor allem junge Menschen zogen ins Dorf. „Alle Familien bewirtschafteten einen Garten und viele hielten sich Enten, Hühner und sogar Schweine“, erzählt eine Frau im Haidemühler Weg. „25 Kinder gingen damals in den Kindergarten.“ Nach dem Umbruch und der Wiedervereinigung seien zuerst die jungen Leute der Arbeit wegen nach Spremberg und Senftenberg oder weiter nach Bayern, Berlin und sogar nach Flensburg gezogen. Danach hätten sich viele Eltern auf den gleichen Weg gemacht, um in der Nähe ihrer Kinder und Enkelkinder sein zu können. Zurück seien lediglich einige ältere Menschen geblieben.

Sie bestätigt die zu erwartende Ruhe am Silvestertag. Niemand werde hier Lust haben, einen Knaller zu zünden. Bald, so fügt sie hinzu, verschwinde Sibirien gänzlich von der Landkarte. Der Tagebau rücke immer näher und spätestens 2020 werde der Ort der Braunkohle geopfert. Die Entschädigungszahlungen würden aber den Schmerz über den Verlust der Heimat lindern. „Wir haben ja alle irgendwann in der Kohle gearbeitet“, sagt sie und verschließt das Gartentor. Brandenburgs Dorf ohne Silvesterfeier schläft weiter.

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