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Hauswald_01

© Harald Hauswald

Berlin: Kerzen, Halstücher, Kaufhausdetektiv

Es war mittendrin, aber nie der Mittelpunkt. Wie das Warenhaus am Alex trotzdem Kern meines Lebens wurde – wenn auch nur für einige Wochen. Von Katja Lange-Müller (Fotos: Harald Hauswald)

Es ging ziemlich schnell, schneller als das meiste und viel schneller als Bauen üblicherweise – zu jener Zeit in jenem Land. Ich kam selten dort vorbei, denn ich lebte meine etwas pummlige, nichtsdestotrotz egomanische und eitel aufs Äußerliche fixierte Pubertät in der Friedrichsfelder „Platte“, gegenüber dem Bärenfenster des Tierparks Berlin, also Auge in Auge mit Jette, der tieftraurigen oder auch nur schwer hospitalisierten Braunbärin an der Seite eines noch kontemplativeren Wappentiers namens Nante, den „die Freunde“ Jette und uns Hauptstädtern zum 16. Geburtstag der DDR geschenkt hatten. Sibirische Kälte herrschte an jenem Dezembertag, an dem ich klopfenden Herzens bis zur Station Klosterstraße fuhr, um von dort aus den Alex zu erreichen und dies neu eröffnete Warenhaus, das erste der Republik – und das größte, bis zu deren Ende.

Da stand es, noch fast allein auf weiter Flur, das „Centrum“, das, obwohl in Mitte befindlich und im ehemaligen Herzen des Ostens, nie dessen Mittelpunkt wurde wie das den letzten Bomben zum Opfer gefallene Kaufhaus Tietz, mir jedoch, zumindest für ein paar Wochen, zum Kern des Lebens. Der große silbrig graue Schuhkarton gefiel mir auf Anhieb. In den Aluminiumwaben, mit denen er rundum verkleidet war, brach sich die Wintersonne, so dass ein edel stumpfer Glanz von ihm ausging, und davor ragte ein unsozialistisches, aber klassisches Symbol in den Himmel, eine in Lichterketten gelegte Weihnachtsfichte, die altmodisch weltläufig wirkte und zur weltläufig-modernen Erscheinung des Kastens wunderbar passte. Das Weltläufige war das, was uns verband, das Kaufhaus, den (fichtenhölzernen) Tannenbaum und mich, obwohl ich nicht weltläufig war, nur Sehnsucht danach hatte und ebenso nach Altmodischem und Modernem. Ich hatte zu jener Zeit gerade eine manische, richtiger romanische Phase und alles von all den französischen Klassikern gelesen, zuletzt Emile Zolas „Paradies der Damen“, einen Gründerzeitroman, in dem der Vielschreiber die Verlockungen des ersten Pariser Warenhauses ebenso naturalistisch schildert wie die der Halles im „Bauch von Paris“.

Und hinter der Drehtür, im Inneren erst, da fand ich das Centrum noch viel, viel schöner: Das riesige Erdgeschoss war erfüllt von Weihnachtsmusik, die, bedrohlich klirrend bei den hohen und schmerzlich brummend bei den tieferen Tönen, aus mehreren, über den gesamten Raum verteilten Lautsprechern drang. Zwei freitragende Rolltreppen führten in die nächste Etage; von der hohen Decke funkelten – wie an den Wurzeln aufgehängte Weihnachtsbäume – gewaltige zylindrische Kronleuchter. Überall gab es kleine runde, mit rosa Kunstseide umwundene Tische – und darauf nichts, nichts als Kerzen, aber die gleich doppelt und dreifach, Zweier-, Vierer-, Sechser- und Zwölferpacks von Weihnachtsbaumkerzen aus Schweden in Rot oder Gelb. Anders gesagt: Das Angebot, allein das, entsprach nicht den Verheißungen (und Kapazitäten!) des prächtig illuminierten Saals, der – etwas wüster und dafür weniger leer – durchaus ein Garten Eden der Werktätigen hätte sein können. An den Architekten jedenfalls lag es kaum, dass es anders war, an jenem 20. Dezember 1969, und anders blieb, bis zum endgültigen (Laden-)Schluss.

Und dennoch, die Menschen kauften wie verrückt, sie kauften diese roten und gelben Baumkerzen, als stünde nicht die Heilige, sondern die ewige Nacht bevor. Und mir, die ich gerade Zolas späten Roman gelesen hatte, dämmerte in all dem Lüsterglanz und mitten im Sozialismus, wie gut das feindliche System, von dem diese Handelsdramaturgie ja wohl abgekupfert war, funktionierte und wie wunderbar es bei uns funktionieren würde, wenn es („eines Tages“, und der würde „bald sein“) wirklich etwas zu kaufen gäbe.

Ich nahm (und bezahlte!) zweimal vier rote Baumkerzen und ließ mich von der Rolltreppe in den ersten Stock chauffieren. Dort gab es, luftig über ca. 1000 Quadratmeter verteilt, die Herren-, die Damen- und vor allem die Jugendmode, lässig verknappt „JuMo“ genannt. So viel JuMo hatte ich noch nirgends gesehen! Röcke, Hosen, Blusen, Jacken aus Malimo, Dederon, Trevira und „hoch veredelter“ Baumwolle. Das laut Werbetransparent „pfiffige, kleidsame, praktische Sortiment für unsere Jungen und jung Gebliebenen“ war gewohnt scheußlich, doch über einem Ständer, weit genug von der Kasse entfernt, hingen russische, genauer sowjetische Wolltücher, die eine Frau im Vorübergehen „gehäkelte Scheuerlappen“ nannte. Aber mir gefielen die mausgrauen Dinger aus kratziger Kunstwolle, was sicher nicht daher rührte, dass es hier drinnen so warm und draußen so kalt war, sondern womöglich auch wieder mit dem schönen weißgelben Licht der – hier oben allerdings etwas kleineren – Kronleuchter zusammenhing. Ich lugte (soll ich „verstohlen“ sagen?) in mein Lehrlingsportemonnaie, und mir wurde klar, wie teuer die „Wachserzeugnisse made in Schweden“ gewesen waren, viel teurer als die volkseigen in Thüringen produzierten, fad weißen „Haushaltskerzen“, die uns sonst gelegentlich angeboten wurden. Was soll’s, dachte ich, hatte es ja schon manches Mal gedacht, und schob mir eins der Tücher in den Ärmel meines Mantels.

An sich hatte ich nicht vorgehabt, etwas zu stehlen; ich wusste genau, dass ich in der letzten Zeit zweimal erwischt worden war und mir derartige Eskapaden gar nicht mehr erlauben durfte, doch das Tuch steckte nun mal in meinem Ärmel. So beschloss ich, den Diebstahl nicht rückgängig zu machen und möglichst schnell das Freie zu suchen. Ich drehte mich weg von dem Ständer, reckte den Kopf, hielt Ausschau nach dem kürzesten Weg Richtung Rolltreppe – und spürte im selben Moment den Druck eines bloßen Daumens auf den wenigen Zentimetern Haut zwischen Mantelkragen und Pudelmützenrand. Als ich erschauernd die Schultern hochzog, hob die Hand, die sich so schattenleicht dort niedergelassen hatte, ab von meinem Nacken; doch eine Zehntelsekunde später, ich hatte schon aufatmen und anfangen wollen, an eine zufällige oder wenigstens irrtümliche Berührung zu glauben, packte sie mich beim linken Oberarm, umschloss ihn ganz, zog an mir, zwang mich, rückwärts zu gehen. Ich bog den Kopf zur Seite und so weit nach hinten als möglich, erblickte einen barhäuptigen Mann in einem braunen Jackett und wusste sofort, dass ich den nicht zum ersten Mal sah. Gleich nachdem ich das Warenhaus betreten hatte, war er mir aufgefallen. Er war einer der wenigen Männer unter all den Frauen und Kindern, hatte ihnen im Weg gestanden wie ein Verirrter, sich nicht für die Kerzen interessiert und so seltsam sommerliche Klamotten an, also weder Handschuhe noch Mütze und Schal, nicht einmal Mantel, Anorak oder Skipullover, bloß ein dünnes Hemd und den hässlichen kotbraunen Anzug, in dem er jetzt hinter mir stand. Gut, hatte ich gedacht, womöglich wohnt der gleich um die Ecke, oder sie haben hier sogar eine Garderobe, heiß genug ist es ja. Doch die Menschen hatten mich vorwärtsgestoßen, zu weiteren Tischen voller Baumkerzen und schließlich zur Rolltreppe, und dann, bei den Russentüchern im ersten Stock, hatte ich zugefasst, und nun er.

„Folgen Sie mir bitte und leisten Sie keine Gegenwehr“, sagte der Mann leise, mit einer weichen, täuschend freundlich klingenden, zu seinem groben Klammergriff so gar nicht passenden Stimme. Und ich ließ mich von dem Mann durch das Gewusel führen wie eine Blinde über eine Hauptverkehrskreuzung. Tatsächlich sah ich nicht besonders gut, weil meine Augen sich mit Tränen füllten; dennoch wurde mir immer klarer, dass dieser Mann einen Job machte, den ich bislang nur aus einigen nicht inländischen Filmen gekannt, mitten in unserer Wirklichkeit aber nicht für möglich gehalten hatte: Er war ein Kaufhausdetektiv.

Anders als in der Erzählung, die ich Jahrzehnte später schrieb und deren auslösendes Moment jene mir trotzdem unvergessliche Episode gewesen war, endete in Wahrheit alles vergleichsweise glimpflich, mit einer letzten Verwarnung seitens der Schiedskommission meines Betriebes, einer Geldstrafe und dem Hausverbot für die Dauer eines Jahres.

Ich habe den Kasten am Alex erst wieder betreten, als er längst nicht mehr Centrum hieß, und auch bloß einmal und selbst dieses eine Mal gegen meinen von Erinnerung(en) gebremsten Willen und nur, weil ich etwas abholen musste; trotzdem, er gehört zu meinem Leben wie meine seit einer Ewigkeit tote Tante Gisela, von der ich mir an meinem fünften Geburtstag die erste Schelle gefangen hatte – und ich bin die Einzige, die noch weiß, wofür.

Dieser Text erscheint in dem neuen Buch „Alexanderplatz“ (Jaron Verlag).

— Harald Hauswald: Alexanderplatz – Fotografische und literarische Erinnerungen. Mit Texten u. a. von Freya Klier, Katja Lange-Müller, Horst Bosetzky, Alexander Osang. Jaron Verlag. 128 Seiten, 14,90 Euro.

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