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Berlin: Kinder, Krippen, Krankheiten

Schon der dritte Schnupfen dies Jahr, dabei ist der Winter lang vorbei: Kitas sind Bakterienschleudern. Aber ist das schlecht? Die Kindergarten-Debatte mal aus Medizinersicht

Schon zum dritten Mal in diesem Jahr hat der zweijährige Jakob eine Rotznase, und dabei ist der Winter längst vorbei. Nachts weckt sein Husten die ganze Familie. Seine Mutter hat ein schlechtes Gewissen: Hat sie ihr Kind zu früh in den Kindergarten gebracht?

Sollen Kleinkinder schon fremdbetreut werden? Auch Kinderärzte beteiligen sich mittlerweile an einer Debatte, die ursprünglich mal beim Bild der Frau in der Gesellschaft begonnen hat und bei der Einrichtung von Hunderttausenden neuer Kitaplätze enden soll. Einige stellten sich gleich auf eine Seite. Kürzlich war zu lesen: Die Mutter soll beim Kind bleiben in den ersten drei Jahren, denn die Kita tut ihm auch gesundheitlich nicht gut. Was ist dran aus Medizinersicht?

Dass Kleinkinder sich mehr Infekte einfangen, seit sie in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden, ist für Kinderärzte grundsätzlich keine Überraschung. Der Geraer Kinderarzt Werner Friedrich hat noch zu DDR-Zeiten in einer Studie minutiös nachgezählt: Krippenkinder unter drei Jahren waren im Schnitt stattliche 87,8 Tage im Jahr krank, ausschließlich in der Familie betreute Altersgenossen nur 34 Tage. „Die Eltern sind meist besorgt, wenn ihr Kind jeden Monat einen fieberhaften Infekt hat“, sagt Elke Jäger-Roman, Vorsitzende des Landesverbandes Berlin der Kinder- und Jugendärzte. In ihrer Schöneberger Praxis erklärt sie ihnen dann, dass das kindliche Immunsystem die Abwehrkräfte erst bilden muss, mit denen es Viren und Bakterien zu Leibe rückt.

Für ein Kleinkind, das schon mit einem oder zwei Jahren in eine Gemeinschaftseinrichtung kommt, verlegt sich das Training ein wenig nach vorne. „Kein Wunder, dass die Kinder zunächst einmal krank werden, wenn ihr Immunsystem seine Jungfräulichkeit verliert“, sagt auch der Charité-Kinderarzt und Allergie-„Papst“ Ulrich Wahn. Aber: Die gehäuften Erkältungen schaden grundsätzlich nicht, und die Kinder, die erst mit drei Jahren in den Kindergarten kommen, machen dafür von da an mehr Krankheiten durch als ihre Altersgenossen, die schon in einer Krippe waren. „Bis zu zehn Atemwegsinfekte im Jahr sind bei einem zwei- bis vierjährigen Kind ganz normal.“

Allergie-Spezialisten vermuten inzwischen sogar, dass frühe Infektionen der Gesundheit auf die Dauer dienlich sind. Möglicherweise neigt das Immunsystem später weniger zu Allergien, wenn es schon früh viel zu tun hat. Dann hat es sozusagen keine Kapazitäten mehr frei für Kämpfe mit eigentlich harmlosen Fremdkörpern.

Auf den Zusammenhang zwischen frühkindlichen Erkältungen und Allergien ist als einer der Ersten der Immunologe Paolo Matricardi aus Rom gestoßen, der Kadetten der Luftwaffe untersuchte und feststellte, dass sie umso weniger anfällig waren für Allergien, je mehr ältere Geschwister sie hatten. Ältere Kinder im Haus haben aus immunologischer Sicht einen ähnlichen Effekt wie eine altersgemischte Kita. Die Allergieexpertin Erika von Mutius der Uni München entdeckte wenig später, dass es vor Allergien schützt, auf dem Bauernhof aufzuwachsen. Wahns Mitarbeiter Christoph Grüber wiederum interessierte sich für Grundschüler, die im Berliner Wedding aufwachsen. Kinder mit Migrationshintergrund haben deutlich weniger Allergien, hat er herausgefunden. Dass nicht allein die Gene dahinter stecken, ist inzwischen klar. Neben einer anderen Ernährung kommt vor allem der Kontakt mit mehr Menschen – und somit mehr Keimen – als Grund dafür infrage, dass Kinder aus traditioneller lebenden türkischen Familien weniger unter Heuschnupfen und Asthma leiden. „Je besser die Familien sich assimiliert haben, desto mehr Allergien tauchen auf“, sagt Wahn. Um herauszufinden, welche Lebensstilfaktoren dafür verantwortlich sind, haben die Charité-Allergologen jetzt EU-Gelder für eine Studie beantragt, für die Kinder in der Türkei und türkischstämmige Kinder in Deutschland verglichen werden sollen.

Welche Erreger es genau sind, mit denen das menschliche Immunsystem tunlichst schon früh Bekanntschaft schließen sollte, wird nun erforscht. „Vielversprechende Kandidaten sind sogenannte Endotoxine, Moleküle aus der Zellwand von Bakterien, die das Immunsystem stimulieren“, sagt Ulrich Wahn. „In einer großen Kinderstudie wollen wir nun untersuchen, ob Zellwände der Darmbakterien Streptococcus faecalis und Escherichia Coli vor Allergien schützen“, erzählt Wahn. 640 Kinder mit hohem familiärem Risiko nehmen dafür ein Mittel ein, in dem die Bakterienbestandteile enthalten sind. Schon heute ist aber eines klar: „An den Allergien zeigt sich, dass es für die Kinder gut ist, wenn sie schon früh Kontakt zu vielen Menschen haben.“

Wenn Eltern sich im Vorfeld Sorgen machen, ob ihren Kindern die Kita guttut, geht es ihnen zunächst allerdings so gut wie nie um Gefahr und Segen der Ansteckung. Wichtiger ist ihnen erstmal, ob das Kind mit der Trennung klarkommt. Viele plagt das schlechte Gewissen.

Für den Berufsverband der Kinderärzte ist in der aktuellen Debatte entscheidend, dass ein Kind genügend Entwicklungsangebote bekommt. Und das merken Kinderärzte bei den Vorsorgeuntersuchungen. „Diese Angebote können in einer schlecht strukturierten Kita Mangelware sein, sie können aber auch bei einem Kind fehlen, das stundenlang zu Hause vor dem Fernseher „geparkt“ wird und mit zwei Jahren noch kaum sprechen kann“, sagt Kinderärztin Jäger-Roman.

„Wenn bei der U7, der Untersuchung, die wir im Alter von etwa zwei Jahren machen, der Verdacht aufkommt, dass die Familie sich nicht ausreichend um das Kind kümmern kann, würde ich den Eltern vorschlagen, es in eine Ganztagseinrichtung zu geben“, ergänzt ihr Kollege Ulrich Fegeler, Sprecher des Berliner Landesverbands der Kinderärzte. Praktisch sei es allerdings manchmal schwierig, das Kind unterzubringen, denn das Jugendamt stellt nicht so leicht einen Platz zur Verfügung, wenn die Mutter nicht arbeitet und auch keine Arbeit sucht. „Wir müssen als Ärzte deshalb einen Umweg gehen und pädagogischen Sonderförderungsbedarf anmelden.“

Fegeler ärgert sich darüber, dass es dazu erst einer medizinischen Diagnose wie „Entwicklungsretardierung“ bedarf. Viel lieber sähe er es, wenn sie hier überflüssig wären. Wenn die Frühpädagogik greifen würde, ehe eine Behandlung nötig wird.

Von der Autorin erscheint im September bei CH. Links das Buch: „Unter drei schon außer Haus? Erfahrungen mit Kita, Krippe und Tagesmüttern“.

Adelheid Müller-Lissner

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