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Kinderarmut: Aufwachsen ohne Träume

175.000 Kinder leben in Berlin in Armut – viele von ihnen fühlen sich im Stich gelassen. Das Buch "Arme Kinder, reiches Land“ erzählt ihre Geschichten.

Ein sechsjähriges Mädchen bricht nachmittags um fünf im Kinderhilfswerk Arche in Hellersdorf fast zusammen. Es klagt über Ohrenschmerzen, seit Tagen läuft ihr schon Eiter aus den Ohren. Zum Arzt hat sie keiner gebracht. Das Einzige was die Mutter sagt, als sie ihre Tochter abholt, ist: „komm“. Das Mädchen klammert sich an ein Käsebrötchen, das ihr zwischenzeitlich besorgt wurde und fragt: „Darf ich das noch essen, Mama?“

Die Geschichte der 6-jährigen Katja ist nur eine von rund 30 Momentaufnahmen, mit denen Huberta von Voss in ihrem Buch „Arme Kinder, reiches Land“ (Rowohlt-Verlag) das Thema Kinderarmut in Berlin und anderen deutschen Städten zeigt. Die Schicksale der Kinder und ihrer Eltern sind nicht fiktiv, sondern wirklich passiert. Und sie geschehen weiter täglich in Deutschland. In Berlin leben nach Angaben der Sozialverwaltung des Berliner Senats zurzeit etwa 175.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Armut, vor zwei Jahren waren es noch 166.000. Es handelt sich dabei um all jene Kinder, die in Hartz-IV-Haushalten leben. In ganz Deutschland sind das rund 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche.

Jenseits von Zahlen, Studien und Statistiken solle das Buch den Raum ausleuchten, „in dem Kinder leben, deren Eltern resigniert haben und in Hartz IV verharren, als sei dies eine Strafe, die sie absitzen müssen“, sagte die Autorin bei der Vorstellung des Buches am Mittwoch in Berlin. „Ich wollte zeigen, was mit Kindern passiert, die nicht Kind sein dürfen, weil die Probleme ihrer Eltern alles überlagern.“ Es gehe um Kinder, die den Eindruck haben, dass sich keiner für sie interessiert – sich im Stich gelassen fühlen. Um Kinder, die keine wetterfeste Kleidung besitzen, oft hungrig in der Schule sitzen, ohne die nötigen Schulmaterialien, weil in der Familie das Geld fehlt. Es sei aber auch „ein Buch über das Fehlen von Träumen, die einen Menschen bei seiner Suche nach dem richtigen Platz im Leben beflügeln“, sagte Voss.

Die meisten Episoden spielen in Berlin. Vielen Kindern und ihren Geschichten ist Voss in der Arche begegnet. Doch die bedrückenden Geschichten durchziehen alle Teile der Stadt. „Ich habe das Buch als Mutter von vier sogenannten Mittelklassekindern geschrieben“, sagte Voss. Oft sei sie froh gewesen, auf dem Rückweg von der Arche noch eine Stunde gehabt zu haben, bevor die Zeit mit den eigenen Kindern, mit deren Freuden und Sorgen wieder begann.

Die Geschichten zeigen neben materieller Armut und Verwahrlosung ein Leben im Umfeld von Kriminalität und Gewalt, von körperlicher und sexueller Misshandlung, von Alkohol und Drogen. Das Buch handelt aber auch von Menschen die aktiv geworden sind, um den Kindern aus deren Misere zu helfen. Die ihre Freizeit nutzen, um die ausgeschlossenen Kinder zu unterstützen und versuchen, ihnen die Möglichkeit zu bieten, wieder Anschluss an die Gesellschaft, bessere Chancen auf Bildung und Erwerbstätigkeit bekommen. Unicef-Botschafterin und Schauspielerin Katja Riemann sagte bei der Lesung, das Buch habe sie zu Tränen gerührt. „Eigentlich sollte man es in der Schule lesen.“

Florian Ernst

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