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Berlin: Klaus Michael Püllmann (Geb. 1941)

„Bei mir geht alles seinen sozialistischen Gang.“

Er war zur See gefahren und hatte die Welt gesehen. Er hatte sie geliebt, die weißen Schiffe seiner Reederei, die Santa Rosa, die Santa Anna und all die anderen. Und er hatte die schönsten Frauen geliebt, natürlich. Wie viele es wirklich waren, und wie schön, wer weiß das schon. Seemansgarn. Ein Bild von einem Mann war er, das ist gewiss, stattliche Figur, immer gepflegt und korrekt gekleidet, mit besten Manieren, blitzgescheit. Und ein brillanter Erzähler – wenn auch im Laufe der Zeit Wahrheit und Dichtung manchmal durcheinander gerieten. Gelegentlich war es, als wolle sich der Mann hinter seinen Geschichten verbergen.

Er verließ Hamburg und arbeitet bei verschiedenen Firmen in Westdeutschland. Seine Biografie bekam irgendwann Risse, sein Auftritt wurde unsicherer. Anfang der Neunziger kam er nach Berlin.

Zunächst wohnte er zur Untermiete, vier Treppen hoch. Die bereiteten ihm Probleme, denn er aß gern und zu viel. Aber das Zimmer gefiel ihm – und seine Vermieterin Anna auch. Es schien, als könne sich da was anbahnen. Silvester feierten sie gemeinsam auf dem Balkon, er, in Kaschmirpullover und englischem Jackett, warf Böller in die Luft und sang lauthals „Winds of Change“. Sie entdeckten ihre gemeinsame Vorliebe für das Köln-Konzert von Keith Jarrett und für Cola „mit Geschmack“. Und immer öfter erwartete er sie mit einem Drink, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Sie lud ihn ins Theater und zu Partys bei Freunden ein, er nannte sie „Stern von Wilmersdorf“.

Aber Anna beendete die Beziehung, bevor sie richtig begann. Klaus trank mehr als nur einen Sundowner am Tag, sein Hang zur Perfektion erwies sich bald als kleinliche Pingeligkeit. Er kontrollierte den Staub auf den Bilderrahmen, bestand auf täglicher Desinfektion des Badezimmers und nörgelte, weil die Heizung zu kalt oder zu heiß war. War es der Whiskey, waren es berufliche Probleme? Aus unerfindlichen Gründen bekam er Wutanfälle oder schloss sich tagelang in seinem Zimmer ein.

Klaus fand eine Wohnung in Tempelhof. Anna half beim Umzug – und überließ ihm den geliebten Kater „Rosso“.

Sie besuchten sich hin und wieder, doch dann hörten sie monatelang nichts mehr voneinander. Klaus wurde wieder arbeitslos, bekam einen neuen Job. „Ach weißt du, ich bin viel an der frischen Luft und schaue mir an, wie die Ein-Euro-Jobber die Blätter einsammeln.“ Mehr sagte er dazu nicht. Als Anna sich ein Haus auf dem Land kaufte, kam er sie ein paar Mal besuchen. Während sie draußen am Betonmischer werkelte, spielte er den Hausmann. „Hast du eine neue Küche?“ fragte er, als er bei Kerzenschein das Essen auftrug. „Nö, wieso?“ – „Na, die sieht aber aus wie neu“, sagte er mit einem breiten Grinsen. „Da hat der olle Seemann die Kombüse mal wieder so richtig auf Vordermann gebracht.“

Seine Mutter hat Klaus abgöttisch geliebt. Als sie starb, war er sechzig, und wieder schien ihn ein Stück seiner Orientierung zu verlassen. Er litt unsäglich, rief Anna an und sie führten lange Gespräche. Schwer, die richtigen Worte zu finden, aber Anna meinte, dass es Zeit sei, loszulassen. Da wurde er wütend und brüllte: „Meinst du, ich kaufe mir jetzt einen Klappstuhl und setze mich an ihr Grab?“ Es klang, als ob er genau das am liebsten getan hätte.

Dann wurde „Rosso“ krank. Der Tierarzt musste ihn einschläfern. „Ich schaffe es nicht, ihn da abzuholen“, sagte Klaus am Telefon. Er bat Anna, das Tier im Garten ihres Bauernhofs zu begraben. „Pflanz’ ein paar Blumen und setz’ einen schönen Findling drauf.“

Als er Rentner wurde, zog er sich völlig zurück, ließ nichts mehr von sich hören. Im November hatte sie Geburtstag, da rief er sie nochmal an: „Bei mir geht alles seinen sozialistischen Gang.“ Das hat er oft gesagt.

Am 13. März kaufte Klaus wie jeden Donnerstag seinen „Stern“ am Kiosk nebenan. Man sah, dass er sich nicht gut fühlte, man riet ihm, sich hinzulegen. Er ging. Sechs Wochen später fand man ihn in seiner Wohnung. Jean Jestel

Jean Jestel

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