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Berlin: Klingt gut

200 Clubs, 500 Plattenfirmen: Nichts wächst in der Hauptstadt so rasant wie die Musikbranche:

Als vor fünf Jahren gleich zwei Schwergewichte der Musikindustrie an die Spree übersiedelten, schien die Stadt es endgültig geschafft zu haben. Berlin war nicht mehr nur die Hauptstadt von Politik und Currywurst, sondern auch zur „Pophauptstadt“ geworden. Von den fünf größten Musikkonzernen siedelten sich zwei an der Spree an. Universal bezog sein aufgemöbeltes Backsteinquartier an der Oberbaumbrücke, Sony Music richtete seine Büros in den Glastürmen am Potsdamer Platz ein, und von Hamburg bis Köln wurde befürchtet, dass die heterogene Musiklandschaft Deutschlands von der Sogwirkung Berlins bedroht würde. 2004 kamen MTV aus München und die Popkomm aus Köln – und Sony wanderte nach der Fusion mit dem Bertelsmann-Riesen BMG teils wieder an die Isar ab.

Was macht Berlin als Musikstandort attraktiv? Infrastrukturelle Mängel wie die schlechte Fluganbindung jedenfalls schrecken international orientierte Musikmanager derzeit noch ab. Berlins Stärke sind die unabhängigen Kleinkünstler, die für ihre eigenwilligen Inhalte ein sehr spezielles Publikum brauchen und auch genügend Clubs vorfinden, in denen sie auftreten können. Die Stadt zerfällt so in eine Vielzahl von kleinen Szenen, Musikerzirkel und heterogene Gruppen. Man fragt sich: Pophauptstadt, wo willst du hin? Lange blickte Berlin voller Neid nach Hamburg, wo Popmusik ein intellektueller Odem umwehte, der sich mit „Hamburger Schule“ auf den Begriff bringen ließ. Die Soundarbeiter aus Berlin aber lassen sich nicht unter einem Schlagwort subsumieren. Vielen gemein sind die wilden, unkonventionellen Stilbrüche der Trash-Kultur.

Was steckt hinter dem Ruf nach der Pophauptstadt? Wie berechtigt sind die Hoffnungen, in Berlin könnte die Musik der Zukunft entstehen? Die Faktenlage ist konfus. Nackte Zahlen in einem Wirtschaftssegment wie der Musikbranche zu erheben, trifft auf vielerlei Schwierigkeiten, denn ein erheblicher Anteil der Berliner Clubs, Labels und Künstler arbeitet in Strukturen, die sich der Erfassung durch Behörden entziehen. Auf etwa 200 schätzt Tanja Mühlhans von der Senatsverwaltung für Wirtschaft die Zahl der Berliner Clubs. In der Unternehmensstatistik des Landesamtes werden nur 40 geführt. Die Menge aktiver Musiker wurde in der letzten Musikstudie auf jeweils 1 000 für Rock/Pop und für Klassik/Jazz bemessen. Dazu kommen 1200 DJs und 100 klassische Ensembles. Alle Berliner Musiker zusammen würden die Philharmonie samt Kammermusiksaal füllen.

Erfreuliche Aktivposten, die die Senatsverwaltung gerne als Standortvorteil anpreist, sind die Plattenfirmen. Jack White, Kitty Yo, Labels, Jazzanova, Motor, Cityslang, V 2 und andere etablierten sich in den letzten Jahren auch auf internationalem Niveau und festigten Berlins ausgezeichneten Ruf für Indie- und Elektromusik. Die wichtigste Kreativquelle der Stadt sind aber die Kleinstunternehmer: 500 Plattenfirmen sind in Berlin registriert. Tanja Mühlhans glaubt, dass 150 bis 200 davon tatsächlich aktiv sind, pro Jahr kommen 30 Neugründungen hinzu, oft von Leuten, die ihr Geschäft als Einzelkämpfer aufziehen wie bei Louisville Records, Monika Records und Pale Music.

Anders als die mainstreamfixierten Großfirmen leidet die experimentelle Szene nicht so sehr an den Einbußen des Tonträgergeschäfts. Sie hat ihren vertrieb oft umstandslos den neuen Konsumgewohnheiten angepasst. „Die Digitalisierung erschließt kleinen Labels neue Einnahmequellen“, sagt Mühlhans.

Der Wirtschaftsfaktor Berliner Musikszene lässt sich nur mit Zeitverzögerung erheben. „Viele Unternehmen geben ihre Steuererklärung ein Jahr später ab, so dass uns gerade mal die Zahlen für das Jahr 2004 vorliegen“, erklärt Tanja Mühlhans. Beeindruckend sind die allemal. Seit 1998 stieg der Umsatz von Plattenfirmen, Konzertveranstaltern und verwandten Bereichen um mehr als 72 Prozent auf rund 1,1 Milliarden Euro an. 1500 Unternehmen beschäftigen heute mehr als 6200 fest angestellte Mitarbeiter. Damit ist die Musikbranche in Berlin, was Umsätze und Beschäftigte im Rahmen der Kreativwirtschaft angeht, der Sektor mit den höchsten Wachstumsraten. Großen Anteil an der Entwicklung haben Labels wie Aggro Berlin. Die 2001 von drei Produzenten gegründete Adresse für deutschsprachigen „Gangsta-Rap“ zählt mittlerweile 13 Mitarbeiter und strebt im Hip-Hop-Segment weiter nach oben.

Was treibt die Musiker in diese Stadt? Tonstudios, die in der Stadt oft von Produzenten wie Patrick Majer (Wir sind Helden, Tele) oder Moses Schneider (Beatsteaks, Seeed) betrieben werden, leisten bezahlbare Arbeit und stricken mit Schützlingen wie Rosenstolz, 2raumwohnung und Mia am Berliner Ruf der Popdomäne. Hinzu kommt der Vorteil der günstigen Wohn- und Übungsräume. Ein WG-Zimmer in Friedrichshain kostet im Schnitt 265 Euro Warmmiete. „Noisy-Rooms“ in der Warschauer Straße bietet einen technisch voll ausgestattenen Übungsraum ab 65 Euro pro Tag – in Hamburg beginnen vergleichbare Angebote bei 100 Euro, und das WG-Zimmer kann bis zu 150 Euro mehr kosten. Klingt erfolgversprechend, doch am Ende zählt die Musik. Dass eine Platte aus Berlin kommt, muss noch kein Qualitätsmerkmal sein.

Tobias Haberkorn

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