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Koch des Jahres Daniel Achilles: Spiel mit den Texturen

Alge mit Lakritzgeschmack, Steine aus Mohn – das serviert der „Koch des Jahres“. Aus überwiegend einfachen Produkten macht Daniel Achilles große Kunst und aus seiner kleinen Küche im Berliner Restaurant „Reinstoff“ eine Tugend.

An jedem Abend tickt die Uhr im stickigen Keller in der Schlegelstraße, die Spannung steht wie ein Schrank im Raum. Sechs Köche tigern im Kreis, rücken irgendetwas zurecht, ziehen Schubladen auf, kramen, schieben sie wieder zu, werfen sich kurze Bemerkungen hin. Warten. Dann, meist kurz nach sieben, klingelt das Telefon. Daniel Achilles, der Küchenchef, nimmt es auf, sagt „Ja?“, doch er weiß längst, was oben passiert ist. „Die ersten vier sind da!“, ruft er mit leiser, aber deutlicher Anspannung in die Runde – und seine Truppe legt los.

Es dauert nur ein paar Minuten, dann sind viermal vier kulinarische Miniaturen im Lift auf dem Weg zum Tisch, wo der Service gleichzeitig den Aperitif hinstellt. Der Abend im „Reinstoff“ hat begonnen, und er wird hektisch werden, unten. Oben genießen Gäste entspannt die Ideen eines der besten deutschen Köche.

Das unscheinbare Restaurant ist ein Teil der Edison-Höfe in Berlin-Mitte, nicht weit vom Nordbahnhof. Wo einst die ersten Glühbirnen gefertigt wurden, sind in den letzten Jahren Bürotürme gewachsen. Als Achilles das Restaurant 2009 mit seiner Lebensgefährtin Sabine Demel und dem befreundeten Weinspezialisten Ivo Ebert gründete, lag es am Rand einer Brache, die als wilder Parkplatz diente. Heute duckt es sich zwischen Bürogebäuden, und niemand, der nicht ausdrücklich hin will, verirrt sich hierher.

Doch die Gäste kommen trotzdem. Innerhalb von nur vier Jahren hat Achilles den Aufstieg von null bis ganz oben bewältigt: Er ist Anfang November vom Restaurantführer Gault-Millau zum deutschen „Koch des Jahres“ gewählt worden, zwei Michelin-Sterne hat er schon länger auf seinem Konto. Und alle modebewussten Fachleute loben seine Kunst, aus überwiegend einfachen, regionalen Produkten große Küche zu machen.

Um den Mut der drei Jungunternehmer richtig einzuschätzen, müssen wir uns ins Jahr 2008 zurückversetzen. Die Wirtschaftskrise rasierte gerade die Kapitalkonten, und wenn ein Gastronom mit Kreditanträgen drohte, dann ließen sich die zuständigen Banker krankschreiben. Achilles, der damals gerade seine Stelle als Sous-Chef beim Drei-Sterne-Koch Juan Amador im hessischen Langen aufgegeben hatte, kreiste in Berlin um seinen Traum vom eigenen Restaurant herum, hörte die Musik von Peter Fox, ließ sich einen Bart wachsen wie der und füllte schließlich zusammen mit den Freunden den Fragebogen für einen Businessplan-Wettbewerb aus.

Weshalb es die Jury dann tatsächlich toll fand, dass sich da drei Verrückte mit einem Gourmet-Restaurant ruinieren wollten, blieb irgendwie unklar. Klar war aber, dass mit dem Gewinn ein Startkredit verbunden war, und den steckten sie nach längerer Suche in das seltsame Restaurant in Mitte, wo gerade ein Wirt ohne durchdachtes Konzept gescheitert war. Die falsche Toskana kam weg, es entstand eine moderne Höhle. Schwarze Wände, Spiegel, dazu gutes Licht. Licht, das nicht in die Gesichter der Gäste fällt, sondern genau fokussiert ist auf Teller und Gläser. Die Gäste mochten, dass sie endlich einmal sehen konnten, was auf dem Teller lag. Es wurden rasch mehr, und als nach einem halben Jahr der erste Michelin-Stern und 16 Punkte vom Gault–Millau auf dem Küchenkonto landeten, ahnten sogar die Banker, dass ihr Geld nicht ganz verloren war.

Ein Business-Plan ist das eine, Kochen können das andere. Achilles, 37 Jahre alt, schlank, hoch aufgeschossen, spielt eine Sonderrolle unter den Kollegen. Nur rund zehn Jahre hatte der gebürtige Leipziger gebraucht, um vom Lehrling im „Paulaner Palais“ zu Amadors wichtigstem Mann aufzusteigen, das ist was in der Branche. Seine Mutter, alleinerziehend, war zwar Köchin, doch eher auf der Kantinenseite. Aber es blieb was hängen. Und in Leipzig gab es schon damals den „Stadtpfeiffer“, das erste Sterne-Restaurant der Region, wo Achilles als junger Koch die Spur der Gourmet-Küche aufnahm. Dann zu Juan Amador auf Sylt, Christian Bau im Saarland, ein paar andere Stationen, wieder Amador, umgezogen nach Hessen. Berlin.

Achilles ist ein zurückhaltender Typ, schweigt und denkt, bevor er redet, das halten viele seiner Kollegen umgekehrt. Die meisten bekannten Küchenchefs plaudern abends, wenn alles vorbei ist, mit ihren Gästen, weil die das erwarten, nur selten auch aus Spaß an der Sache. Achilles bleibt in der Küche, zum einen, weil die unten im Keller liegt, vor allem aber, weil er sich dem Kontakt nicht gewachsen fühlt.

Die Stunden höchster Konzentration und Anstrengung pumpen ihn aus, geben ihm das Gefühl, nichts Bedeutendes mehr zu sagen zu haben. Er ist ein Grübler, hadert immer ein wenig mit seiner Situation, sagt, dass er gern mehr Zeit zum Entwickeln, Erproben, Tüfteln hätte. „Aber Sie sehen ja, dreizehn ist eigentlich schon wieder gelaufen, so vergehen die Jahre...“ Er muss schon zufrieden sein, wenn er die Brigade eine Weile zusammenhalten kann, denn die Konkurrenz zahlt besser.

Der Druck ist gewaltig, er kommt von allen Seiten. Wer heute in der kulinarischen Bundesliga mithalten will, der darf sich keinen Stillstand leisten, muss das Menü mindestens viermal jährlich komplett erneuern mit den Jahreszeiten. An diesem Mittwoch kommt in der Reinstoff-Küche alles auf einmal. Oben im ausgebuchten Restaurant wird ein langes Sondermenü für acht Gäste erwartet, zum Teil außerhalb der Karte, ein Fünfertisch kommt noch dazu. Gleichzeitig drängt die Vorbereitung des neuen Menüs, das in der kommenden Woche fertig sein soll, bisher aber nur aus vielen Ideen in wenigen Köpfen besteht.

Lukas Nowotka, einer der vier Postenchefs, wechselt deshalb ständig zwischen der aktuellen Arbeit und Experimenten, er kocht und püriert und mixt und schmeckt ab, um die Aromen von Karotten und Topinambur-Wurzeln auf einen Punkt zu bringen, der fürs landläufige Kochhandwerk unerreichbar ist. Dann wechselt er beiläufig wieder in die Routine, säubert Artischocken, schält Kartoffeln. Hilfskräfte fürs Öde hat er nicht, denn neben den vier Routiniers gibt es nur noch einen ausgelernten Koch und einen Azubi.

Er rappt atemlos wie Peter Fox den ewigen Küchenchef-Slam

Selbst der Chef also muss Berge von Zwiebeln und Schalotten zerlegen, wenn das gerade nötig ist. Sonst beschäftigt er sich, wenn es gegen elf Uhr vormittags losgeht, vor allem damit, Fisch und Geflügel zu präparieren und die Soßen fürs Tellerfinish zu kochen, die dann in 14 kleinen Kasserollen oben auf dem Bord landen, Reihenfolge wie jeden Tag, weil es schnell gehen muss. Zeit ist nie in diesem Geschäft.

Die stilistische Entwicklung der Reinstoff-Küche ist typisch für den Weg, den das moderne Gourmet-Handwerk in wenigen Jahren zurückgelegt hat. Als Achilles anfing in Berlin im März 2009, da kochte er vor allem, was er bei Amador gelernt hatte: Hoch artifiziell angerichtete, teils hochgradig verfremdete Luxusprodukte, die wie Juwelen auf den Tellern und Platten aufgereiht waren, fast mehr fürs Foto als für die Zunge des Gastes. Diese Dinge rückten Jahr für Jahr näher zusammen, wurden für den Gast greifbarer, verständlicher in ihrem Zusammenklang, immer bodenständiger in Würzung und Aromatik. Achilles lotet längst lieber die Schattierungen aus, als mit Kontrasteffekten zu provozieren, damit liegt er auf einer Wellenlänge mit den Neuerern vor allem in Skandinavien.

Der Unterschied zwischen dieser Küche und einer „normalen“, routinemäßigen, liegt in der gedanklichen und handwerklichen Tiefe der Zubereitung, die das Potenzial eines Grundproduktes bis ans Ende ausreizt. Wenn hier gleich am Anfang ein winziger Happen zum Thema Fenchel angerichtet wird, nur ein einziger Löffel, dann enthält er: einen Klecks Fenchelpüree, eine flüssig gefüllte Fenchelkugel, einen kleinen Streifen Alge mit Lakritzgeschmack, gehobelten Fenchelsalat, ein Blatt Meerfenchel.

Das Spiel mit den Texturen bestimmt auch das eigentliche Küchenprogramm. Kürbis und Mohn – das ist eine Mohn-Ziegenkäsecreme, spiralig eingerollt in Kürbisstreifen. Methodisch baut Nowotka Schicht um Schicht, legt zunächst ein Kürbischutney an, dann krautige Streifen von gegartem Muskatkürbis, münzgroße Scheiben Butternut-Kürbis. In diese Komposition abgestufter Orange-Töne fügt er löffelweise neutral gehaltenen Ziegenquark aus Eigenproduktion ein und vollendet mit unregelmäßig geformten kantig-grauen Steinen, die selbstverständlich keine sind, sondern auf der Basis von Stärke mit Mohn gefertigt wurden.

Zwischen diese fast durchweg simplen Produkte setzt Achilles eigene Geistesblitze. „Mein Liebling des Jahres ist das Mariengras“, sagt er und öffnet eine Tüte mit dem getrockneten Kraut, dessen Geruch an frisch gemähte Wiese, Waldmeister und Marzipan erinnert. Es aromatisiert an diesem Abend einen leichten, klaren Sud, rund ums Steinbuttfilet, auf dem grünes Pulver aus Studentenblumen leuchtet.

Beim Garen der Fischfilets ist deutlich zu sehen, wie Achilles die räumliche Not zur technischen Tugend macht. Für die komplexen Gartechniken und teuren Geräte der aktuellen Mode ist schlicht kein Platz. Also brät er die Filets einfach in Butter in einer kleinen Pfanne rundherum an und fackelt sie dann mit dem Gasbrenner ab, um rasch Röstnoten herauszukitzeln, aber innen nichts zu übergaren. Dann zieht alles noch unter einer Wärmebrücke nach, während die Kollegen drunter bereits die Teller vorbereiten. Einer seiner Genieblitze, für die es Sterne und Punkte gibt, ist die scheinbar echt japanische Ramen-Nudelsuppe: Die Nudeln und alles, was in der kleinen Schüssel sonst noch liegt – alles aus Kartoffeln. Achilles hat auch schon Zahnbürsten mit Borsten aus Eukalyptus-Joghurt und Minzcreme aus der Tube serviert, demnächst steht ein Zwischengang mit Glühbirnen an.

Abends gegen neun ist dann kein Platz mehr für herumstehende Beobachter. Die Küche folgt dem Takt, den die herumfliegenden Orderzettel vorgeben. Achilles rappt dazu atemlos wie Peter Fox den ewigen Küchenchef-Slam: „Nach sechs Steinbutt kommt sechs Karpfen, danach Reh, Fasan, Sorbet, Fragezeichen. Und dieser Kartoffelgang ist Kartoffelspinat, darauf weißer Alba-Trüffel zum Selberhobeln. Auf der anderen Seite zwei Amuse weiter, zweimal die Artischocke, danach einmal Meeresfrucht, danach zwei Ramen, ein Steinbutt, ein Fasan mit einem Steinbutt-Hauptgang auf Achtzehn, Neun und Vier...“ Doch alles bleibt zivil im Ton, selbst wenn Achilles seine Leute mit „Express!“ oder „Vollgas!“ antreibt.

Ein Arbeitstag im „Reinstoff“ dauert dreizehn, vierzehn Stunden. Sonntag und Montag ist frei, Zeit für die Familie. Nach der Geburt des gemeinsamen Sohns hat sich Sabine Demel aus dem Alltagsgeschäft verabschiedet, erledigt die Büroarbeit. Daniel Achilles denkt häufig darüber nach, wie es weitergehen mag mit dem Kochen. Noch komplexer? Kaum denkbar. Südamerikanisch inspiriert? Könnte ein Trend werden. Wie lange werden die Skandinavier mit ihren fermentierten Kartoffelschalen und verbrannten Kohlblättern den Ton angeben? Und wollen die deutschen Esser sowas überhaupt?

„Manchmal ist es mit der deutschen Küche wie mit der Musik“, findet Achilles, „Sachen, die anderswo nicht funktionieren, kommen bei uns in die Charts“. Ach ja: Sein Peter-Fox-Bart ist schon vor einer ganzen Weile verschwunden.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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