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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Mein Berlin": Kerne der Sonnenblume

Notizen aus der globalen Stadt von Hatice Akyün

Die Türken haben die Kernspaltung erfunden. Das macht sich besonders zum Frühlingsanfang in Kreuzberg bemerkbar. Wenn man jetzt nicht aufpasst, wird man unweigerlich von fliegenden gerösteten Sonnenblumenkernen getroffen. Im schlimmsten Fall, wenn sie bereits im herausgelösten Zustand sind.

Sonnenblumenkerne zu spalten, gehört zu den Grundlagen der türkischen Erziehung. Die Fertigkeit, den Kern aus der Schale zu lösen, habe ich von meinem Vater gelernt. Der wiederum von seinem Vater, der von seinem Vater und so weiter. So wird dieses Geschick von Generation zu Generation weitergegeben. Nur das Problem der Restmüllbeseitigung ist auch nach jahrtausendelanger Tradition noch nicht erfunden worden. So landen die ausgelutschten Schalen einfach auf dem Boden.

Ich muss zugeben, dass ich meinen Vater beim Erlernen des Kernherauslösens in den Wahnsinn getrieben habe. Ich meine mich zu erinnern, dass er nach acht Stunden die Schale mit den Kernen im hohen Bogen aus dem Fenster geworfen hat. Heute beherrsche ich die Kunst selbstverständlich perfekt. Es gibt zwei erprobte Kernspaltungsphilosophien: Zum einen die Hasen-Variante, bei der man die Spitze anknackt und sich gefühlvoll hochknabbert, und zum anderen die Spitzspalt-Variante, bei der man den Kern hochkant zwischen die Schneidezähne nimmt, die Schale aufknackt, den geöffneten Kern seitlich wegdreht und das weiche Innere mit der Zunge herausfischt. Um den Kern so geschickt zu öffnen, dass man nicht ständig Krümel zwischen den Lippen hat, muss man enorm lange üben. Empirische Untersuchungen gibt es darüber zwar keine, aber ich kann persönlich und aus eigener Erfahrung bezeugen, dass die ausdauernde Geschicklichkeit der Türken, unermüdlich und eindrucksvoll zu küssen, auf die feinmechanischen Fähigkeiten der Kernspaltung zurückgeht.

Ich kann gar nicht abwarten, den Brauch endlich meiner Tochter weiterzugeben. Bisher haben wir die Regelung, dass ich die Kerne in mühevollster Kleinarbeit öffne und sie die Auslese ohne große Anstrengungen isst. Der türkischstämmige Vater weigert sich übrigens, die „dörfliche Angewohnheit“, wie er das Sonnenblumenkerneessen nennt, in den Erziehungsplan unserer Tochter aufzunehmen. Das hat man davon, wenn man Türken ständig diesen Knigge zu lesen gibt.

In Kreuzberg wird im Frühling alles, was irgendwie als Sitz dienen könnte, vor die Tür gestellt. Ich bin davon überzeugt, dass man anhand der Artenvielfalt des Gestühls und der Sitzkultur auf die Herkunft von Menschen schließen kann. Alte Männer hocken auf Kisten, Frauen bilden Kreise auf Decken, Machos in ihren verspachtelten Schlitten, deren TÜV-Restlaufzeiten scheinbar länger sind als die der Kernenergie, fahren im Schritttempo über die Oranienstraße, und aufgehübschte Mädchen schlendern möglichst langsam über die Gehwege, um ja nicht übersehen zu werden. Und alle spalten sie Sonnenblumenkerne.

Meine Mutter, eine gestandene Dorftürkin, kommt niemals aus der Türkei zurück, ohne etliche Tüten Sonnenblumenkerne in ihren Koffern zu verstauen. Aber man muss nicht gleich in die Türkei reisen, um an den Stoff zu gelangen. In Kreuzberg gibt es einen ganzen Laden mit dem Trockenfutter. Türken nennen Sonnenblumenkerne „eglencelik“. Was so viel bedeutet wie „für das Vergnügen“. Für das Spalten der Sonnenblumenkerne gibt es natürlich auch einen eigenen Begriff: „citlemek“. Weil sie beim Öffnen das Geräusch „cit“ machen.

Leider musste ich schon nach dem ersten Frühlingswochenende eine Kern-Zwangspause einlegen. Meine ausgetrockneten Winterlippen waren wohl noch nicht bereit für die anatolische Mundakrobatik. Sobald der bis auf den Knochen reichende Riss meiner Zunge abgeheilt ist, fange ich sofort wieder an.

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