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© Mike Wolff

Kottbusser Tor: Wer ist der Kotti?

Alles, was Berlin hat, bündelt sich hier. Ein Opfer der Kahlschlagsanierung ist er geworden. Heute sind Boheme und Junkies hier zu Hause. Nur für eine neue Fixerstube sieht es schlecht aus.

WIE VIEL BERLIN STECKT IN DEM PLATZ?

Der Berliner pflegt seine Plätze mit Spitznamen zu belegen. Görli, Theo, Alex oder Leo, aber keiner ist wie der Kotti, der nur auf dem Stadtplan Kottbusser Tor heißt. Der Mittelpunkt des Kreuzberger Stadtteils SO 36 ist eine von vielen Berliner Absurditäten. Ein Tor, das gar kein Tor ist, sondern eine mit Beton und Menschen vollgestopfte Kreuzung von sechs Straßen und einem Hochbahnviadukt. Der Kotti bündelt all das, was es in Berlin auch überall sonst gibt und was die Stadt in den Augen des Bürgertums so unheimlich macht. Der Platz ist ein Kaleidoskop der Parallelwelten. Mit einer Säuferszene, wie sie auch die Touristen an der Gedächtniskirche irritiert. Mit Junkies und Dealern, die auch die Bahnhöfe der U-Bahnlinie 8 im Griff haben. Mit einem Migrantenmilieu, das auch in Neukölln-Nord, Wedding oder Moabit zu Hause ist. Mit der Autonomen-Guerilla, die am 1. Mai am Mariannenplatz Revolution spielt und sich sonst die Zeit damit vertreibt, Autos anzuzünden oder Feinschmeckerlokale mit Fäkalien zu verwüsten. Späte Nachfahren der Anarchoszene um Rio Reisers Band Ton Steine Scherben, die in den siebziger Jahren gegen die Kahlschlagsanierung in Kreuzberg kämpfte und sang. Nirgendwo ist ein gewachsenes Stadtviertel so brutal zerstört worden wie am Kottbusser Tor, wo Spekulanten in den siebziger Jahren das Neue Kreuzberger Zentrum hinklotzten, einen architektonischen Irrtum aus Beton mit der passenden Abkürzung NKZ. Aber auch die linksalternative Beck’s-Boheme ist am Kotti zu Hause, Sven Regener hat ihr mit seinem Roman „Herr Lehmann“ ein Denkmal gesetzt. Ein paar Szenen des Buchs spielen am Kotti, zum Beispiel die, in der Herr Lehmann „lachte, bis ihm die Tränen kamen und sich am Kottbusser Tor die Leute nach ihm umdrehten, was außergewöhnlich war, denn hier drehte sich nie irgend jemand nach irgend etwas um“.

WIE HAT SICH DAS GESICHT DES PLATZES IM LAUFE DER ZEIT VERÄNDERT?

Das Kreuzberg Museum liegt an der Adalbertstraße, gleich hinter dem Betonriegel des NKZ. An den Wänden hängen Bilder von Häusern aus der Gründerzeit, man mag kaum glauben, dass sie mal am Kotti standen. Ein paar haben den Krieg nicht überlebt, die meisten aber wurden Opfer der Kahlschlagsanierung. Mitte der sechziger Jahre war der Wiederaufbau West-Berlins weitgehend abgeschlossen, die Bauindustrie suchte nach neuen Aufträgen und fand sie in den alten Arbeiterquartieren in der Innenstadt mit ihren engen Mietskasernen. Das NKZ wurde 1969 als Abschreibungsobjekt geplant, der Senat ermöglichte zügige Genehmigung, Rollkommandos garantierten prompte Entmietung. Zwischen Planung und Einzug der ersten Mieter lagen nur fünf Jahre. Knapp 100 Millionen Mark kostete der Betonriegel, ein Vielfaches floss in Förderung und Sanierung. Und doch wurde der Kotti immer ärmer, weil das Prinzip der Fehlbelegungsabgabe das Wohnen in den Sozialbauten für Besserverdienende verleidete. Es war nicht die Einsicht in eigene Fehler, sondern der Druck der Straße, der die Kahlschlagsanierung stoppte. Hausbesetzer, die Ende der Siebziger in die zum Abriss vorgesehenen Häuser zogen und den Baggern trotzten. Damals erfand der Stadtplaner Hardt-Waltherr Hämer die behutsame Stadterneuerung, die Instandsetzung vor Modernisierung vor Abriss setzte. Für den Kotti kam diese Wende zu spät. Bis in alle Ewigkeit wird das NKZ den Platz prägen. Vor elf Jahren forderte Klaus-Rüdiger Landowsky, damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Abgeordnetenhaus, man müsse „den Mut haben, das Neue Kreuzberger Zentrum zu sprengen“. Das war politisch nicht durchsetzbar, obwohl es sich gut in die Tradition am Kotti gefügt hatte. Das alte Stadttor auf der Ausfallstraße Richtung Cottbus wurde schon 1865 geschleift.

WORÜBER STREITEN DIE ANWOHNER DES KOTTI DERZEIT?

Das Drogenproblem ist eines von vielen, aber das markanteste auf dem Kotti. An den Eingängen zur U-Bahn und im rosa gefliesten Zwischengeschoss des U-Bahnhofs hat sich die Szene einen festen Platz erkämpft. Es riecht nach Urin und Zigarettenrauch. Ab und zu schickt die BVG ihren Ordnungsdienst vorbei. Männer in blauen Uniformen mit Schäferhunden an der Leine. Dealer, Junkies und Obdachlose gehen dann nach oben, bis die Streife wieder abgezogen ist. Am Kotti leben Ordnungsmacht und Parallelgesellschaft in friedlicher Koexistenz. Damit haben sich die Anwohner abgefunden. Nicht aber mit den immer zahlreicheren Junkies, die sich ihre Spritzen in den Hauseingängen und Fluren setzen, auf den Toiletten der Restaurants oder auf Spielplätzen. Jahrelang blühte die Subkultur in einem Parkhaus an der Skalitzer Straße. Als dieses im vergangenen Jahr geschlossen wurde, strömen immer mehr Junkies ins Freie. In der Dresdener Straße gibt es eine Fixerstube, in der sich die Süchtigen das Heroin unter ärztlicher Aufsicht injizieren können. Der Mietvertrag läuft Ende März aus. Ein neuer Raum ist noch nicht gefunden, der Kreuzberger Sozialstadtrat sagt, er könne mit einem Sack Geld durch die Stadt rennen, niemand würde ihm einen Mietvertrag anbieten. In seiner Not griff der grüne Bürgermeister Franz Schulz zu einem Trick, so darf man spekulieren. Jedenfalls regte Schulz öffentlich an, den neuen Druckraum in einem Haus unterzubringen, aus dem gerade ein kurdisches Café auszieht und in dem zufällig der grüne Bundesvorsitzende Cem Özdemir wohnt. Als Partei stehen die Grünen politisch hinter der Idee von Fixerstuben. Als Vater aber dürfte Özdemir wenig davon gehalten haben, die Junkies in einem Mehrfamilienhaus mit Spielplatz im Hinterhof zu betreuen. Das Projekt platzte, und Bürgermeister Schulz muss weiter nach einem neuen Druckraum suchen. Selbst wenn er einen finden sollte, würde das nicht viel ändern am grundsätzlichen Problem. Das billige Heroin – ein Szenekügelchen kostet nur noch zehn Euro – spült immer mehr Süchtige nach Kreuzberg. Geschätzt 400 Junkies halten sich Tag für Tag am Kotti auf, ungefähr 20 konsumieren im Druckraum.

WARUM HAT DIE POLITIK DIE PROBLEME SO LANGE IGNORIERT?

Drogenhauptstadt ist Berlin seit den Tagen der Christiane F. und den anderen Kindern vom Bahnhof Zoo. Schon damals, vor gut 30 Jahren, wurde am Kotti gedealt. Am Zoo ist, mal abgesehen von den Strichern an der Jebensstraße, nicht mehr viel zu sehen von der Szene. Am Kotti hat sie sich etabliert. Das hat drei Gründe. Erstens bietet das verwinkelte NKZ mit seinen fünf Aufgängen und zwölf Geschossen beste Rückzugsmöglichkeiten zum Dealen und Fixen. Zweitens ist es der Polizei so unrecht nicht, wenn sie die Szene auf einem übersichtlichen Areal konzentriert, damit der Drogenhandel nicht unkontrolliert wuchert. Für dieses Anliegen war, drittens, die Bevölkerungsstruktur am Kotti geradezu perfekt. Nirgendwo sonst in Berlin leben auf so engem Raum so viele Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Ausländer, und deren Stimme hat wenig Gewicht an höherer Stelle. Und die Kreuzberger Autonomen sehen die Junkies bis heute als Verbündete im Kampf gegen das Establishment. Bei einer Bürgerversammlung vor ein paar Wochen richtete ein Mann eine Solidaritätsadresse an die Geknechteten des Systems und versprach jede Menge Krawall für den Fall, dass jemand auf die Idee komme, die Szene zu vertreiben. Doch in den vergangenen Jahren hat sich am Kotti ein türkisches Bürgertum entwickelt. Anwälte, Geschäfts- und Kaufleute, Familien mit Kindern, sie haben sich zu einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen und erst am Samstag wieder eine Demonstration organisiert, Motto: „Für ein freundliches Kreuzberg! Drogen weg vom Kottbusser Tor!“ Der Protest wird lauter, die Menschen am Kotti wollen sich von der Politik nicht mehr abspeisen lassen mit dem Hinweis, das Drogenproblem sei ein gesellschaftliches und deswegen nur schwer zu lösen. Schon sprechen erste Anwohner offen von Selbstjustiz. Ein neuer Druckraum allein wird nicht viel beitragen zur Befriedung.

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