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© dpa

Kreativmekka Berlin: Sex, Drugs und ganz wenig Kunst

Vier australische Musiker ziehen nach Neukölln, um inspiriert vom Geist der Stadt das ganz große Album aufzunehmen. Es folgen Partys, Drogen, Mädchen, Kunstdebatten nonstop. Bis die Band merkt: In Berlin kann man zwar toll leben, aber unmöglich arbeiten.

Im April dieses Jahres zogen meine Bandkollegen und ich für drei Monate von Melbourne nach Berlin, um ein Album zu schreiben und unsere ersten Auftritte im Ausland zu spielen. Wir hatten Christopher Isherwoods Romane über das Berlin der Vorkriegszeit gelesen, wir hatten Dokumentarfilme über die Stasi gesehen, wir wussten, welchen Einfluss die Stadt auf Musiker wie David Bowie und Nick Cave gehabt hatte. Letztlich aber hing unsere Entscheidung nicht an der Geschichte oder Musikszene der Stadt; wir brachen auf, weil, wie unser Gitarrist Pat es ausdrückte, Berlin „der Ort ist, wo die Grenzen der Kunst ausgelotet werden“.

Für eine junge Band wie unsere hatte die Stadt eine Anziehungskraft, wie sie Paris und London seit Orwells Zeiten nicht mehr hatten: günstige Mieten, ein entspannter Lifestyle, Proben in ausgedienten Lagerhallen, Auftritte in verlassenen Spionagetürmen, inspirierende Gespräche mit Schriftstellern und Zirkuskünstlern – das waren die Szenarien, die wir in aufgeregter Vorfreude diskutierten. Berlin war in unserer Vorstellung der ideale Ort, um unsere Kreativität auszubrüten, sie durch bewusstseinserweiternde Auftritte zu verfeinern und schließlich das bemerkenswerte Album einzuspielen, von dem wir wussten, dass es uns vorherbestimmt war.

Anfangs wurde Berlin unseren romantischen Erwartungen gerecht. Zu viert – Nachtgäste nicht mitgerechnet – teilten wir uns eine Zweizimmerwohnung in Neukölln, für nur 500 Euro im Monat. Unsere Couch wurde nachts zum Bett, unsere Herdplatten dienten eher als Stauraum als zum Kochen. In den ersten Wochen hatten wir keinen Strom, weshalb es kein heißes Wasser gab und in jedem Zimmer Teelichter standen, die verirrte Kleidungsstücke in Brand zu setzen drohten. Die Wohnbedingungen waren nicht hübsch, aber das war uns egal: Unser Proberaum lag nur fünf Minuten entfernt, und um uns wimmelte es von Bars, Parks, Mädchen und Tischtennisplatten. Wir waren in einem hedonistischen Paradies gelandet. Das Bier war billiger als Mineralwasser, die Drogen mühelos zu beschaffen, die beste Tanzmusik der Welt an jedem beliebigen Wochentag in Reichweite.

In den ersten Wochen lernten wir Modedesigner, Fotografen, Illustratoren, Filmemacher, Schriftsteller, andere Musiker und Dutzende exilierter Paradiesvögel kennen, die aus ihren Heimatländern nach Berlin geflohen waren, um künstlerisch reinen Tisch zu machen. Eines Tages lernte ich im Park einen Filmemacher namens Nehemias kennen, geboren in El Salvador, aufgewachsen in Los Angeles. Neugierig fragte ich ihn nach seinem Grund für den Umzug nach Berlin. Er erzählte mir von der unerklärlichen Energie, die er ein Jahr zuvor bei einem Berlin-Urlaub gespürt hatte. Immer noch stark beeindruckt von der Stadt, fragte ich ihn, ob das Leben als Kreativer in Berlin irgendwelche Nachteile habe. „In L.A.“, sagte er, „schaffen es die Leute, etwas auf die Beine zu stellen, weil man obdachlos wird, wenn man sich nicht ins Zeug legt. Hier dagegen kann man jahrelang bettelarm sein und trotzdem bequem leben.“

Inzwischen begreife ich, dass mir dieser Satz eine Warnung hätte sein sollen.

Unterdessen schien jeder, der uns begegnete, aus demselben Grund wie wir nach Berlin gekommen zu sein: um Kunst zu machen. Bloß hörte ich selten von anstehenden Ausstellungen oder Buchpremieren oder Konzerten. „In Berlin“, reflektierte Pat neulich, „habe ich viel Zeit damit verbracht, über Kunst zu sprechen – beim Bier, beim Kaffee, beim Spiegelschnorcheln um vier Uhr morgens. Aber irgendwie habe ich wenig Kunst entstehen sehen.“ Es fiel mir schwer, ihm nicht zuzustimmen.

Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit beschrieb die Stadt 2003 als „arm, aber sexy“. Zehn Jahre später hat sich daran wenig geändert. In Neukölln, dem zunehmend gentrifizierten Stadtteil, in dem wir lebten, war die weit verbreitete Arbeitslosigkeit deutlich sichtbar. Die „Sexiness“ schien so etwas wie ein Symptom dieser Armut zu sein: Das niedrige Kostenniveau macht die Stadt attraktiv für Kreative aus aller Welt.

Ist Berlin tatsächlich ein kreatives Mekka?

Ist aber Berlin tatsächlich ein kreatives Mekka, wenn keiner der Pilger etwas produziert? Gab es, begannen wir uns zu fragen, zwei verschiedene Arten von Kreativen in der Stadt? Diejenigen, die als etablierte Künstler ihr Leben finanzierten, und diejenigen wie uns, die als kreative Touristen kamen? Denn uns wurde schnell klar, dass viele allein wegen der günstigen Lebensverhältnisse in Berlin wohnten, ohne, wie Nehemias es ausgedrückt hatte, „etwas auf die Beine zu stellen“.

In unserem Fall lag es nicht an fehlender Inspiration, dass wir keine Musik machten, sondern eher an übermäßiger Ablenkung. Es gibt in Berlin jede Menge Inspirierendes für einen Künstler. Die Stadt hat mehr Brücken als Venedig, zahllose Museen und Galerien, eine gesunde Portion leer stehender Industriebauten und verwaister Freizeitparks, unzählige geschichts- und gefühlsgetränkte Erinnerungsorte. Auch für Künstler, die ihre Inspiration eher bei Menschen suchen, ist Berlin ergiebig, da hier das Seltsame normaler ist als das Normale: Eltern mit XL-Bierflaschen in der Hand sehen ihren Kindern beim Schaukeln zu, Nudisten sonnen sich in öffentlichen Parks, ehemalige Stasispitzel sitzen in ihren Stammkneipen und murmeln in ihre Drinks. Überall um uns brummten die Cafés, lesende, redende, lachende Menschen säumten die Kanalufer, die riesigen Parks waren voller Picknickdecken, Grillrauch und Sonnenschein. Bloß schien niemand zu arbeiten.

Ich kam mir irgendwie ausgetrickst vor. Das Leben war einfach zu leicht. Der Alltagsstress, an den wir gewöhnt waren, existierte nicht, er wurde jede Nacht durch ein neues Abenteuer verdrängt: Partys in leer stehenden Schwimmbädern, Raves auf verlassenen Flugplätzen, Nachtclubs, die tagelang geöffnet blieben. Es gab keine Abgabefristen, um die man sich sorgen musste, und keine Chefs, die sie durchgesetzt hätten. Es gab zu wenig Grenzen – und uns fehlte die Willensstärke, um Nein zu sagen.

Bald fing unsere selbst auferlegte Fünf-mal-die-Woche-Proben-Disziplin an zu bröckeln, weil immer gerade jemand verkatert oder auf Drogen oder schlicht verschwunden war. Wir verlegten die Proben auf Mittag, aber oft war selbst um diese Zeit mindestens einer von uns noch nicht im Bett gewesen. Wir fingen an, die Gründe zu vergessen, aus denen wir Australien verlassen hatten. Die unerklärliche Energie der Stadt hatte uns gepackt, aber anstatt unsere Musik zu stimulieren, weckte sie nur unseren Partygeist. Wir verloren jeden Antrieb. Und von da an ging es bergab.

Ein Mitglied unserer Band fing sich nach 17 Stunden Polizeigewahrsam eine 1600-Euro-Geldstrafe wegen Sachbeschädigung ein. Es gab Raufereien und alkoholisierte Backgammon-Abende, bei denen Köpfe durch Fensterscheiben krachten. Wir zogen uns Infektionen an den Armen und Schnittwunden an den Beinen zu, wir fielen Kreditkartenbetrügern, Dieben und unmoralischen Drogendealern zum Opfer.

Eines Tages – ich starrte gerade eine Nudistin in der Hasenheide an – merkte ich, dass wir in einer Art Künstler-Paradox feststeckten. Nach Berlin gekommen waren wir wegen des Lifestyles, den die Stadt Künstlern bot, doch genau dieser Lifestyle warf uns nun aus der Bahn. Berlin ruinierte uns. Bald begann ich, das Undenkbare in Betracht zu ziehen: früher nach Melbourne zurückzukehren, zu einer stabilen Geistesverfassung, zu meiner Freundin, meiner Familie, meinem Job.

Erst recherchierte ich allerdings ein bisschen. Und fand heraus, dass 2010 die sogenannte Kreativwirtschaft für 20 Prozent des Berliner Bruttosozialprodukts verantwortlich war – was bedeuten musste, dass es in Berlin tatsächlich Menschen gab, die Kunst produzierten. Wie hatten es diese Leute vermieden, den Versuchungen des Kreativmekkas zu erliegen? Vielleicht, überlegte ich, war Berlin für sie gar kein Kreativmekka, sondern einfach ein Zuhause. Wir waren die Eindringlinge, die als Pilger kamen und sich in der Partyszene verirrten, während sie in ihren Studios werkelten. Vielleicht waren wir für diese Künstler nicht besser als all die anderen Touristen, die ein paar Tage, Wochen oder Monate blieben, sich betranken und dann heimkehrten. Während wir in Berlin lebten, fiel uns eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber dem sogenannten „Easyjetset“ auf: Touristen, die mit Billigflügen zum Feiern nach Berlin kommen. War das der Grund, warum ich nie einen Künstler kennenlernte, der eine Ausstellung oder Aufführung anstehen hatte? Weil sie ihre Studios nicht für jede Party verließen? Weil sie möglicherweise gar nicht ausgehen und Typen meines Schlags treffen wollten?

Die etablierten Berliner Künstler geraten unter Druck

Inzwischen geraten die etablierten Berliner Künstler unter Druck. Am 4. September wurde das berüchtigte Kunsthaus Tacheles vom Eigentümer geräumt, um es zu verkaufen. Eines Tages im Juni kam ich am Tacheles vorbei. An der Fassade, zwischen den Statuen eines Pinguins und eines Gorillas, hing ein Schild mit der Frage: „Where shall we go now?“ In Berlin steigen die Mieten gerade rasant, in Vierteln, die unter Kreativen beliebt sind, greift die Gentrifzierung um sich. Werden die Künstler, die zu Berlins Wirtschaft beitragen, verdrängt? Werden die Kreativtouristen gezwungen sein, sich „mehr ins Zeug zu legen“, um „etwas auf die Beine zu stellen“? Oder werden sie einfach weiterziehen, in die nächste Stadt, in der Bier billiger ist als Mineralwasser und eine Zweizimmerwohnung so gut wie umsonst?

Ich werde es nicht herausfinden – denn ich bin nach Australien zurückgekehrt. Mein Leben hat sich gewandelt: Ich rauche nicht mehr, habe mit meiner Freundin einen Mietvertrag unterschrieben und suche gerade einen Hund zum Adoptieren. Ich begreife inzwischen, dass Kreativität nicht bedeutet, für wenig Geld einen hedonistischen Lebensstil zu pflegen, sondern eher, wirklich etwas zu kreieren. Berlin hat uns jede Gelegenheit geboten, unser Album zu schreiben, aber nach sechs Monaten hatten wir immer noch nichts aufgenommen. Die Erfolgsgeschichten von David Bowie und Nick Cave werden erzählt, weil Geschichten wie unsere nicht erzählenswert sind.

Was unsere Band angeht: Die macht gerade Pause, und ich bin unsicher, ob sie jemals wieder zusammenkommt. Tommy, unser Drummer, ist irgendwo in England und lernt Gitarrenbau. Pat ist nach Australien heimgekehrt, um eine Bar auf dem Land zu managen, er denkt über einen Uni-Abschluss nach. Sam, unser Bassist, arbeitet keine 100 Meter von meinem Schreibtisch entfernt, er entwickelt Strategien für globale Bier- und Schokoladenmarken. Über Skype trinken wir manchmal Bier mit Tommy, und Pat kommt in die Stadt, wann immer er kann. Selbst wenn die Band eines Tages wieder zusammenfände, würden uns ausstehende Bußgeldzahlungen davon abhalten, nach Deutschland zurückzukehren. Traurigerweise hält das Schicksal für uns wohl keine Auftritte in den Kellern Berliner Plattenläden bereit.

Es wäre albern, unseren mangelnden kreativen Output der Stadt anzulasten. Pat hat das Problem gut zusammengefasst, als er einmal sagte: „In Berlin ist man nie gezwungen, aufzuhören.“ Es war der Lifestyle der Stadt mit all seinen Ablenkungen, der unseren Erfolgswillen aushebelte. Drei Monate im Kreativmekka Berlin haben mich eine wichtige Lektion über Kreativität gelehrt: Man findet sie nicht an einem Ort.

Trotzdem war der Trip kein totaler Reinfall. Ich habe gelernt, wie man Joints richtig dreht, wie man Haare schneidet, wie man Whiskey pur trinkt, ohne zu würgen. Und natürlich habe ich den Anfang eines Romans geschrieben: 13 000 undruckbare Wörter über einen australischen Musiker, der nach Berlin geht, zu viele Drogen nimmt, psychotisch wird und in einer deutschen Irrenanstalt landet. Dieser letzte Teil ist zum Glück Fiktion – ich habe mir bloß ausgemalt, was vielleicht passiert wäre, wenn ich meinem Künstlerparadies nicht entkommen wäre.

© 2012 The New York Times, Übersetzung Jens Mühling

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