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Kreuzberger Schule: Die Klasse 6 a trauert um ihre Lehrerin

"Viele Kinder haben geweint": Die 50-jährige Ayse Ö. war an der Aziz-Nesin-Schule in Kreuzberg sehr beliebt. Jetzt wurde sie in Istanbul erschossen - von ihrem Ehemann.

Von Sandra Dassler

„Natürlich war es ein Schock für die Kinder. Viele haben geweint, Ayse war eine wunderbare Lehrerin“, erzählt eine Mutter. Ihre Tochter geht in die 6a der Aziz-Nesin-Europaschule an der Kreuzberger Urbanstraße. Ihre Klassenlehrerin, die 50-jährige Ayse Ö., wurde in der Nacht vom 2. zum 3. Januar in Istanbul von ihrem Ehemann erschossen.

Die Leiterin der Aziz-Nesin-Grundschule bestätigte gestern die traurige Nachricht, wollte sich aber nicht zu Einzelheiten äußern. Sie hatte bereits am Sonntagabend die Eltern der Sechstklässler informiert und sie gebeten, am Montag mit ihren Kindern zur Schule zu kommen. „Die meisten Eltern haben das auch getan und ihre Kinder schon am Abend auf die schlimme Nachricht vorbereitet“, erzählt ein Vater: „Dass Ayse von ihrem zweiten Ehemann getötet wurde, haben die Eltern aber wahrscheinlich erst gestern erfahren, nachdem die türkischen Zeitungen in Deutschland darüber berichteten“.

Diesen Berichten zufolge hatte sich der 58-jährige Ehemann der Lehrerin in Begleitung seines Anwalts der Polizei in Istanbul gestellt. Seiner Schilderung zufolge war es zu einem Streit gekommen, in dessen Verlauf er seine Pistole zog und auf seine Frau richtete. Er sei davon überzeugt gewesen, dass das Magazin der Pistole leer gewesen sei, habe aber offenbar vergessen, die Munition herauszunehmen. So soll sich der tödliche Schuss gelöst haben.

Ob die türkischen Behörden dieser Version glauben, war gestern nicht zu erfahren. Auch worum es in dem Streit ging, ist unbekannt. Alle, die Ayse Ö. gekannt haben, sind jedoch davon überzeugt, dass es sich nicht um so etwas wie einen „Ehrenmord“ gehandelt haben kann. „Dieser Mann war Geschäftsmann, Akademiker, sehr modern“, sagt ein Bekannter: „Einen anderen hätte Ayse auch gar nicht geheiratet. Sie war ja total emanzipiert, hatte nach der Scheidung von ihrem ersten Mann ihre beiden Töchter allein großgezogen.“

Ayse Ö., die aus Istanbul stammt und 1979 einen in Berlin lebenden türkischen Arzt geheiratet hatte, unterrichtet seit 16 Jahren an Berliner Grundschulen. Seit sie an die neu gegründete Europaschule in Kreuzberg wechselte, die ein zweisprachiges Konzept verfolgt, hat sie zwei Jahrgänge von der ersten bis zur sechsten Klasse begleitet.

„Unsere Töchter und Söhne hatten großes Vertrauen zu ihr“, erzählt ein Vater: „Die meisten kommen aus deutsch-türkischen Familien, deren Eltern möchten, dass ihre Kinder von beiden Kulturen erfahren und davon profitieren. Ayse wusste das und hat mit den Kindern viel unternommen, damit diese ihre Wurzeln nicht vergessen.“

Auch der migrationspolitische Sprecher der Grünen, Özcan Mutlu, hielt viel von der engagierten Lehrerin: „Ich war total geschockt, als ich von ihrem Tod erfuhr“, sagt er: „Sie wird uns sehr fehlen.“

Trotz der großen Trauer mussten in den vergangenen Tagen praktische Probleme an der Aziz-Nesin-Grundschule gelöst werden. „Bald gibt es Halbjahreszeugnisse, die besonders wichtig sind, weil sie die Empfehlung für die weiterführenden Schulen enthalten“, sagt ein Vater. „Das muss jetzt jemand übernehmen, der die Kinder natürlich nicht so gut kennt.“ Aber die Schulleitung würde sich sehr um eine Lösung bemühen, sagt der Vater. Dann kämpft er mit den Tränen: „Heute, am Dienstag, sollte mein Sohn eine Geschichtsarbeit bei Frau Ö. schreiben.“ Sandra Dassler/Ferda Ataman

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